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Textprobe 2, 'Suchen Im Park': Streitgespräch

Der Pastor hat nachgeschenkt. Die Männer prosten einander zu. Jeder denkt dabei an Inge, aber keiner sagt es. Beide lieben Inge, jeder auf seine Weise. Beide wissen, daß sie ohne diesen Engel nicht leben können. Und sie wissen auch, daß Inge sie beide braucht. Was für eine Situation! Bei der Verschiedenheit dieser beiden Männer!!

 

Aber Hoffnung ist gekeimt und gewachsen. Hoffnung auf ein Arrangement, auf einen Kompromiß. Beide suchen danach. In zunehmendem Maße haben sie einander schätzen und die Aufrichtigkeit des anderen respektieren gelernt. Hier kann der Schlüssel liegen für die Vermeidung einer Katastrophe, für die Gestaltung der Zukunft: Wahrhaftigkeit und gegenseitige Achtung in Kenntnis und Anerkenntnis unüberbrückbarer Unterschiede.

 

So tasten sich Pastor und Peter mit großer Vorsicht an die Diskussion heran, die nun unvermeidbar geworden ist, an die geistige Auseinandersetzung, die sie führen müssen, ganz gleich, ob jetzt oder später, an das Streitgespräch, das über das Schicksal von drei Menschen entscheiden wird. So wie sie beschaffen sind, müssen sie diese Auseinandersetzung mit offenem Visier austragen.

 

'So sei es denn', denkt der Pastor und zieht an seiner Zigarre. Er bläst den Rauch zur Decke, etwas kräftiger und energischer als sonst. Dann beginnt er mit einem Thema, zu dem sich Peter bereits in einer Weise geäußert hatte, die darauf schließen läßt, daß hier noch am ehesten gemeinsamer Grund gefunden werden kann. "Sie haben sich", sagt er mit ruhiger Stimme, "zum Thema Toleranz geäußert. Ich würde gern mehr darüber wissen, wie Sie im Einzelnen dazu stehen."

 

"Toleranz ist Duldsamkeit gegenüber anderen - ihren Überzeugungen, Anschauungen und Verhaltensweisen. Nur auf ihrem Acker können Güte und Weisheit gedeihen."

 

Als Peter nicht weiterspricht, sagt der Pastor: "Das sehe ich genauso. Für mich gehört zur Toleranz darüber hinaus Verstehenkönnen und Helfenwollen. Und auch Wissen um die eigene Verlorenheit ohne die anderen."

 

"Toleranz", fährt Peter fort, "ist Voraussetzung für Fairneß und Einsicht. Und nur wo diese beiden zu Hause sind, kann es Wahrhaftigkeit geben." Er wiegt den Kopf. "Bei so manchem allerdings ist Toleranz nichts anderes als eine Form von Gleichgültigkeit." Er pafft. "Für mich hat neben der passiven Toleranz, dem wohlwollenden Erdulden von Andersartigem, die aktive Toleranz, die Freude an der Vielfalt, am Anderssein, einen hohen Stellenwert."

 

"Ist die Wissenschaft tolerant?"

 

"Die Wissenschaft ist intoleranter als sie gemeinhin zugibt und als es ihrer Sache dienlich wäre. Das mag verständlich sein, entschuldbar ist es nicht. Verständlich wird es, wenn man bedenkt, wie schwierig es oft ist, neue Erkenntnisse zu gewinnen, und zwar mit Methoden, die den strengen Maßstäben der Naturwissenschaft gerecht werden. Oft ist es mühsam, neu gewonnene Erkenntnisse in ein Gedankengebäude einzubauen, das in sich widerspruchsfrei ist. Erst wenn das gelungen ist, sprechen wir von 'Wahrheit'. Eine solche Wahrheit kann einem lieb werden, und sie kann den eigenen Konzeptionen in einem so starken Maße zugrundeliegen, daß es schmerzlich wird, sie aufzugeben. So hängen manche Wissenschaftler mehr an einer solchen 'Wahrheit', als sie es nach dem neuesten Stand der Erkenntnis tun sollten. Und dann werden sie den Verkündern neuer Ideen gegenüber schnell intolerant."

 

Peter pafft und schüttelt dabei den Kopf. "Diese Leute vergessen ganz einfach oder wollen nicht wahrhaben, daß so manche große Idee oder Entdeckung zunächst als falsch angesehen, später aber als richtig erkannt wurde. Und sie vergessen, daß sich viele 'Wahrheiten' im Laufe der Zeit als revisionsbedürftig oder gar als falsch erwiesen haben. Wissenschaftlich erarbeitete Wahrheiten sind immer vorläufige Wahrheiten. Sie stehen ständig unter dem Vorbehalt der Bewährung."

 

"Sie sind also nicht nur anderen geistigen Bereichen gegenüber sehr kritisch, sondern auch gegenüber der eigenen Domäne."

 

"Ja. Ich übe überall Kritik, wo ich erkenne, daß die Wahrheitsfindung beeinträchtigt wird. Da nehme ich mir nahestehende Bereiche keineswegs aus, ebensowenig wie mich selber."

 

"Das ist lobenswert." Die Zigarre zwischen Zeige- und Mittelfinger haltend, macht der Pastor mit dem Arm einen Bogen durch die Luft. "Aber laufen Sie dabei nicht Gefahr, bei der Wahrheitssuche in der Methodenwahl einseitig zu werden?"

 

"Wie darf ich das verstehen?"

 

"Ich meine, daß es verschiedene Wahrheiten gibt, und daß nicht alle Wahrheiten mit den Methoden der Wissenschaft erkennbar und überprüfbar sind."

 

"Gewiß. Aber für mich müssen die Methoden der Wahrheitsfindung schlüssig sein, in sich logisch und überprüfbar."

 

"Damit schränken Sie aber die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung erheblich, um nicht zu sagen unzulässig, ein." Der Pastor steht auf, legt Holz nach im Kamin und füllt die Gläser.

 

"Auch dem kann ich zustimmen. Aber solange ich keine anderen, keine besseren Methoden zu Gebote habe, muß ich mit denen arbeiten, die mir zur Verfügung stehen."

 

"Selbst auf die Gefahr hin, daß das Bild, das Sie auf diese Weise von uns und von der Welt konstruieren, schief ist?"

 

"Ja. Mir ist da ein schiefes Bild, das in seiner Schiefheit überprüfbar ist, lieber als ein gerades Bild, das nur scheinbar gerade ist, bei dem der Wunsch nach Geradheit zum Maßstab gemacht wurde." Peter pafft. Mit zusammengezogenen Brauen und gerunzelter Stirn sieht er den Rauchwolken nach. "Das ist mir eher ein - verzeihen Sie - verlogenes Bild. Damit könnte ich nicht einverstanden sein. Aber ich gebe gerne zu, daß zu einem besser ausgewogenen Bild, als es die Wissenschaft zu erstellen vermag, auch andere Bereiche menschlichen Erlebens gehören. Die Malerei etwa und die Musik. Sie glauben gar nicht, Herr Pastor, was für wunderbare Gefühle in mir entstanden sind dadurch, daß Sie und Inge hier musiziert haben! Die Stimmung, die wundervolle Harmonie, die in Ihrem Hause herrscht - so etwas hatte ich noch niemals zuvor erlebt. Das hat mich tief bewegt. Das hat mir ganz neue Erlebnisqualitäten erschlossen. Dafür bin ich Ihnen und Ihrer Tochter sehr dankbar."

 

"Darauf lassen Sie uns anstoßen."

 

"Gern."

 

Die beiden Männer erheben ihr Glas, schauen einander in die Augen. Lang, ernst.

 

"Zum Wohl."

 

"Zum Wohl."

 

"Die Harmonie, die Sie in diesem Hause empfinden", sagt der Pastor, nachdem er sein Glas abgesetzt hat, "sie hat auch etwas zu tun mit dem Geist, der dieses Haus erfüllt. Inge und ich sind gläubige Christen." Langsam führt er die Zigarre zum Mund, zieht mehrmals und entläßt aus gespitzten Lippen einen feinen Rauchstrahl. In ernster Nachdenklichkeit fährt er mit gewölbter Hand über weiße Locken. "Ich meine, daß das Christentum für die Menschheit viel getan hat, tun kann und tun wird."

 

Peter schweigt. In Gedanken ermahnt er sich zur Zurückhaltung. Erst als der Pastor nicht weiter spricht, sagt er: "Ich glaube Ihnen, daß das Christentum für Sie und für Inge viel getan hat, tut und tun wird." Er überlegt. "Ich glaube auch, daß das Wort des Christengottes eine Stütze für Sie ist und eine Richtschnur - daß Sie daran Halt und Zuversicht finden."

 

"Gottes Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege."

 

"Und weil dem so ist, und weil ich Sie und ihre Welt achte, möchte ich lieber nicht weiter über das Christentum sprechen."

 

"Warum nicht?"

 

"Weil mein Wesen und meine Erfahrung mich dazu zwingen, diese Dinge anders zu sehen als Sie."

 

"Ich würde Ihre Art, die Dinge zu sehen, gerne kennenlernen."

 

"Ich sehe die Dinge sehr viel anders."

 

"Ich respektiere das." Der Pastor nippt am Wein. "Ich kann sachliche Kritik ertragen." Er bläst Rauch zur Zimmerdecke. "Ich will versuchen, Ihnen geduldig zuzuhören - auch wenn das schwierig sein sollte - solange ihre Kritik an meiner Religion der ernsthaften Suche nach der Wahrheit entspringt, die ich an Ihnen kennengelernt habe, und die ich zu würdigen weiß."

 

'Jetzt passiert es doch noch', denkt Peter. 'Wie aber sollte, wie könnte ich das verhindern. Ich kann mich einfach nicht verstellen'. Nervös fahren seine Finger herum im Bart. Ganz fest nimmt er sich vor, einer harten Konfrontation aus dem Wege zu gehen: "Sehen Sie, Herr Pastor, "ich liebe Ihre Tochter über alles, und ich empfinde große Achtung vor Ihnen, ja, respektvolle Freundschaft - wenn ich das als der Jüngere so offen sagen darf."

 

Der Pastor nickt. Mehrmals. In seinem Gesicht leuchten Zustimmung und Herzlichkeit.

 

"Sie und Ihre Tochter verbindet eine ganz einzigartige, eine ganz wunderbare Beziehung. Ich will diese Beziehung auf keinen Fall belasten, sie nicht stören, nicht zerstören."

 

"Das werden Sie nicht, solange Sie wahrhaftig sind." Der Pastor blickt zur Zimmerdecke. Er atmet tief. Und jetzt sieht er Peter in die Augen: "Sie und ich, wir haben keine andere Wahl. Wir sind sehr verschieden. Wir können und wollen uns nicht verleugnen. Was wir aber tun können, ja, was wir tun müssen, wenn unsere Beziehung Bestand haben soll, das ist, diese Verschiedenartigkeit offen darzulegen, sie genauer kennenzulernen. Und sie dann, soweit das irgend möglich ist, zu akzeptieren."

 

"Sie haben recht. So ist es."

 

"Inge hat mir gesagt, daß Sie aus der Kirche ausgetreten sind."

 

"Ja."

 

"Warum?"

 

"Nicht, um die Kirchensteuer zu sparen." Peter ist innerlich sehr erregt. Aber er bringt es fertig, zu schmunzeln.

 

"Das glaube ich Ihnen gern." Auch der Pastor schmunzelt.

 

"Ich muß Ihnen weh tun, Herr Pastor, wie ich auch schon Inge weh getan habe. Ich wünschte, ich könnte das vermeiden, aber bei einer ehrlichen Antwort auf Ihre Frage kann ich das nicht."

 

"Nur zu!"

 

"Das Christentum", sagt Peter, sich vorsichtig vorantastend, "fußt auf Überlieferungen über Leben, Lehren und Tod des Jeschua aus Galiläa, später Jesus Christus genannt. Das Überlieferte ist erst 50 bis 150 Jahre nach seinem Tod niedergeschrieben worden. Nachforschungen haben ergeben, daß die Schreiber nicht mit historischer Objektivität berichteten, sondern in der Absicht, den christlichen Glauben zu begründen. So haben sie ausgewählt, gewichtet, ausgeschmückt und wohl auch verdreht. Bis auf den heutigen Tag haben die Kirchenoberen das Auswählen und Umauswählen, das Übersetzen und Umübersetzen, das Ausdeuten und Umausdeuten weitergeführt. Es gibt daher viele Auslegungen, viele Kirchen und viele Bibeln. Ich glaube, daß Jesus sich außerordentlich wundern würde, wenn er erleben könnte, was die Kirchenoberen aus seinen Lehren gemacht haben."

 

"Das Alte Testament", antwortet der Pastor mit fester, tiefer Stimme, "ist für Juden und Christen eine Offenbarungsurkunde. Das, was Gott durch Menschen sprach, hat später seinen Niederschlag in verschiedenen Büchern gefunden. Durch Auswahl, Neuordnung und Neufassung der Texte dieser Bücher blieb die Bibel lebendig. Die verschiedenen Bibelausgaben sind ein zeitgesegnetes Dokument des ernsthaften Bemühens vieler Generationen von Gottesmännern. Wahrlich, sie sind ein lebendiges Zeugnis der Worte und Weisheit Gottes. Und des Suchens der Menschen nach sich selbst und nach dem Herrn."

 

Peter schweigt.

 

"Die Bücher des Alten Testamentes", fährt der Pastor fort, "sind in einem Überlieferungsprozeß entstanden. Gott hat zu den Gottesmännern in Gleichnissen gesprochen. Im Verlaufe des Zeitgeschehens bedürfen Gleichnisse der Aktualisierung."

 

Als Peter weiterhin schweigt, sagt der Pastor: "Nur zu mit ihrer Kritik!"

 

Peter räuspert sich. Dann sagt er: "Jesus beschränkte seine Lehren auf die Juden. Es ging ihm nicht darum, eine neue Religion zu stiften. Er wollte den jüdischen Glauben reformieren und auf diese Weise sein Volk vorbereiten auf das Reich Gottes. Andere Völker waren ihm Feindbilder oder gleichgültig. Jesus sah sich als Retter und Heilbringer des jüdischen Vokes, als den Messias, den Gott im Alten Testament verheißen hatte. Mit jeder Faser seines Herzens wurzelte er im jüdischen Glauben. Jesus war immer ein Jude, nie ein Christ." Peter pafft. "Das ist der Boden, auf dem das Christentum gewachsen ist."

 

"Sie haben sich mit Jesus und dem Christentum offenbar sehr intensiv beschäftigt."

 

"Ja. Ich habe viel gelesen und viel mit einem befreundeten jungen Doktor der Theologie diskutiert. Mir liegt sehr daran, Ihre und Inges Welt besser zu verstehen."

 

"Darüber freue ich mich."

 

"Ich versuche immer", setzt Peter ermutigt seinen Gedankengang fort, "zu unterscheiden zwischen dem, was Jesus offenbar gewollt hat und dem, was die Chronisten und Kirchenoberen daraus gemacht haben."

 

"Und was haben die Ihrer Ansicht nach daraus gemacht?"

 

"Etwas, das unerhört viel Unglück über die Erde gebracht hat und auch heute noch viel Unglück verursacht." Peter schweigt. Dann pafft er wieder. "Aus meiner Sicht hindert das Christentum die Menschen daran, zu sich selber zu finden. Unter dem Einfluß des Christentums können die Menschen nicht die Augen öffnen, nicht die Verantwortung auf sich nehmen für das, was sie auf der Erde anrichten. Das Christentum läßt die Menschheit verblendet und geblendet in den Abgrund stürzen."

 

Der Pastor bleibt ruhig. Ernst sagt er: "Das müssen Sie mir bitte begründen."

 

"Das fängt schon an mit der Art, in der das Christentum Toleranz praktiziert. Die kirchlichen Amtsträger sind unduldsam gegen jeden 'Irrtum', der - wie sie das sehen - Gott die Ehre und den Menschen das Heil entzieht. Die Bibel gebietet: 'du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst'. Um aber der geschichtlichen Wahrheit gerecht zu werden, müßte dieser Satz fortgeführt werden: Und wenn du das nicht glaubst, dann schlag ich dir den Schädel ein! Siehe die Inquisition. Siehe die Religionskriege. Siehe die furchtbaren Wunden, die die Missionare zusammen mit Siedlern und Politikern zum Beispiel in Afrika und in Amerika den dort lebenden Menschen und der Natur geschlagen haben. Überall in der Welt hat das Christentum Menschen entwurzelt, sie rücksichtslos ihrer eigenen Religion beraubt, ihre Kultur zerstört. Viele dieser Menschen sind bis heute entwurzelt. Sie haben ihre Identität nicht wiederfinden können. Ganze Kulturkreise sind durch das Christentum unwiderbringlich vernichtet worden. Keine andere Religionsgemeinschaft hat soviele Glaubenskriege geführt, soviel unterdrückt, gefoltert und getötet wie das Christentum."

 

Peter sieht den Pastor an. Als der nichts sagt, fährt er fort: "Und was hatten die Missionare den Missionierten denn anzubieten? Ist nicht unsere eigene Welt kaputt? Zeigt es sich nicht heute, daß die Indianer, um nur ein Beispiel zu nennen, eine normalere, eine natürlichere Beziehung zu ihren Göttern und deren Schöpfung hatten als die Christen zu ihrem Gott und dessen Schöpfung? Welch unglaubliches Leid hat die christliche Botschaft 'Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan' verursacht! Denken Sie an die geschändete Umwelt, an die Ausbeutung von Boden, Tier und Pflanze! Die Verbindung von europäischem Tatendrang und Besitzhunger mit christlicher Arroganz und Besessenheit hat auf allen Kontinenten eine blühende Buntheit andersartiger Kulturen und Glaubensrichtungen mit unvorstellbarer Brutalität nach eigenen Vorstellungen umgestaltet oder ausgerottet. Geblieben sind allenfalls Kulturtrümmer - Zeugen des größten Völkermordes und der größten Kulturvernichtung aller Zeiten, Reste einer auf immer verlorenen menschlichen Vielfalt und Lebensfülle."

 

"Ja", sagt der Pastor ernst, "ja, wir haben viele Fehler gemacht. Wir haben die Botschaften unseres Herrn nicht immer in seinem Sinne ausgelegt. Wir haben viel gesündigt am Menschen und an der Natur. Ich wünschte, ich könnte Ihnen widersprechen. Ich kann es nicht. - Aber ich bin sicher: Die Missionare waren guten Willens. Sie waren zutiefst überzeugt von dem Guten, das sie den Menschen bringen wollten."

 

"Das glaube auch ich. Die Verantwortung tragen die Kirchenoberen. Angeblich im Namen Christi, aber vor allem in Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen, haben sie zielstrebig und rücksichtslos ihre Macht ausgebaut. Ein sehr wirksames Instrument war dabei ihre Kunst, die Menschen immer wieder in Schuldgefühle zu verstricken, ihnen immer wieder Schuld einzureden, einzupredigen. Erst auf dem Boden der Schuld der Menschen und ihrer Ängste konnte sich die Macht der christlichen Kirche voll entfalten. Mit dem Einreden von Schuld, dem Inaussichtstellen von Vergebung und dem Versprechen eines Weiterlebens nach dem Tode im Himmel für diejenigen, die sich kirchenkonform verhalten, hat das Christentum seinen weltweiten Siegeszug angetreten. Hier liegen dessen Erfolge, nicht in der ethischen Weiterentwicklung der Menschen. Die hat unter einer fast zweitausendjährigen Herrschaft des Christentums nicht stattgefunden."

 

Der Pastor schweigt.

 

"Unter der Herrschaft des Christentums können die Menschen sich nicht in ausreichendem Maße bewußt werden, daß sie für all das, was sie hier auf Erden anrichten, selber die Verantwortung tragen. Sie können nicht in Gedankenfreiheit ihren Kopf erheben. Sie können nicht versuchen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Sie können nicht endlich begreifen, daß da niemand ist, der ihnen vergeben kann oder will. Niemand, der sie beschützen kann oder will. Genau daran krankt unsere Welt!"

 

Noch immer schweigt der Pastor.

 

"Die Christenoberen haben die Lehren Christi, das, was dieser gute Mensch offenbar wirklich gewollt hat, zu oft den eigenen Interessen gemäß zurechtgebogen."

 

"Das ist schlimm, was Sie da sagen. Sehr schlimm. Aus Ihren Worten klingt Verbitterung. Es muß schwer sein, mit solchen Gedanken und Vorstellungen zu leben."

 

"Was sagen Sie zu meiner Kritik?"

 

Der Pastor wiegt den Kopf. Seufzt. Mit dem Zeigefinger klopft er weiße Asche von der Zigarre. "Auch ich bin über so manches in der Art, wie Christentum praktiziert wird, nicht eben glücklich. Manches, zu vieles von dem, was Sie voller Bitterkeit gesagt haben, muß ich mir einfach anhören, kann ich nicht guten Gewissens zurückweisen." Er sieht Peter in die Augen: "Aber hat das Christentum den Menschen nicht auch unendlich viel Gutes gebracht? Hat es nicht unzähligen Menschen Halt gegeben? Ja! Das Leben und Sterben Christi hat Millionen und Abermillionen Trost gespendet und ein Vorbild geliefert. Es hat ihrem Leben Anleitung, Sinn und Inhalt gegeben."

 

"Warum mußte Jesus sterben? Weil ihm Gott eingeredet hatte, daß er sein Sohn ist? Weil der Vater den Sohn im Stich gelassen hat? Weil dem Vater bei der Erschaffung des Menschen Fehler unterlaufen sind? Und wie kann der ans Kreuz genagelte, sterbende Christus Trost und Vorbild sein? Muß ein so schrecklich Gemarterter nicht eher Angst einflößen? Angst vor einem Gott, der seinen Sohn solchen Fürchterlichkeiten aussetzt?"

 

"Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."

 

"Alle, die an ihn glauben? Ist das genug? Viele Juden sehen im Christentum einen 'billigen' Glauben. Und darin wiederum erkennen sie den Grund dafür, daß das Christentum das ältere Judentum im Römischen Reich so leicht beiseite drängen konnte."

 

"Billiger Glauben?"

 

"Die christliche Religion gewährt das ewige Leben schon allen, die glauben. Die jüdische Religion erst allen, die das Gesetz, die Thora, befolgen."

 

"Sie verstehen die große Bedeutung falsch, die dem Leiden und Sterben Christi zukommt."

 

"Warum hat dann das Leiden und Sterben Christi - der große Erlöserversuch des Christengottes - die Angst und das Leid nicht weggenommen von den Gläubigen?"

 

Der Pastor sieht Peter an mit Augen, in denen der versinkt. "Weil Angst und Leid zu Läuterung führen können."

 

Der Pastor senkt den Kopf und schweigt. Nach einer ganzen Weile sagt er: "Das Christentum hat sehr viel für die Menschen getan. Es hat Millionen und Abermillionen auf einen besseren Weg geführt. Ohne das Christentum wäre vieles Schlimme noch viel schlimmer. Ohne Christentum wäre dem Bösen im Menschen Tür und Tor geöffnet worden, wäre unsere Welt schlechter, als sie es ohnehin schon ist. Das Christentum hat, im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, Angst nicht geschürt, sondern verringert. Es hat vielen geholfen, ihr Leid leichter zu ertragen. Es hat Schmerzen gelindert, Kranken in ihrer Not beigestanden, Verzweifelnden neue Hoffnung gegeben, Sterbenden das Abschiednehmen erleichtert."

 

Peter nickt. "Sicher haben Sie auch selber während Ihres langjährigen Dienstes am Menschen viel Gutes getan, viel Not und Leid gelindert. Vielen Menschen geholfen, sich wieder aufzurichten, wieder zu hoffen, vielen Menschen das Sterben erleichtert und vielen Überlebenden ermöglicht, ihren Verlust leichter zu ertragen."

 

"Ich habe das versucht."

 

"Vielleicht", sagt Peter plötzlich mit ganz anderer Stimme, "vielleicht wäre mein Vater nicht so früh gestorben, ... vielleicht wäre er noch heute am Leben ..., wenn ... wenn er einem Pastor begegnet wäre. Wenn er Ihnen begegnet wäre."

 

"Woran ist Ihr Vater gestorben?"

 

"Am Tod meiner Mutter. Er verfiel in eine tiefe Depression. Er ..." Peters Stimme versagt. Er schluckt und ringt um Fassung. "Er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr."

 

Der Pastor ist erschüttert. Er senkt den Kopf. Mit leiser, zitternder Stimme sagt er: "Das wäre auch mit mir passiert - wenn es Inge nicht gegeben hätte."

 

Lange schweigen die beiden, gefangen in Gedanken, die einander ähnlicher nicht sein könnten.

 

"Der Dienst am Menschen", sagt Peter schließlich, "ist etwas sehr Gutes, etwas, das ich sehr hoch einschätze." Nach einer Pause fügt er hinzu: "Es ist etwas, das ich am Christentum bewundere. Und es ist etwas, das vielleicht auf eine andere Weise nur weniger wirksam erreicht werden kann."

 

"Richtig! Das, was Sie zuletzt gesagt haben, berührt einen ganz wichtigen Aspekt: Religionsausübung hat immer auch eine Qualität des Zu-sich-selber-Findens, des Meditierens. Hier stehen subjektive Empfindungen im Vordergrund. Hier wird das Innerste des Menschen angesprochen - und spricht zurück. Dieser Aspekt des Glaubens, diese Erfahrung am ureigensten Ich, sie ist auf andere Weise nicht erreichbar. Und sie ist nur sehr bedingt, wenn überhaupt, der wissenschaftlichen Analyse zugänglich. Hier zählt nur, oder doch ganz primär, die Wirkung. Das ist so ein bißchen wie in der Medizin. Wenn ein Mittel einem Kranken hilft, dann ist es das richtige. Auch dann, wenn die Wirkungszusammenhänge nicht bekannt sind, ja, sogar dann, wenn alle Logik, wenn all unser gegenwärtiges Wissen gegen eine Heilwirkung spricht. Wer heilt hat recht."

 

Peter nickt.

 

"Und wenn das Gespräch mit dem Pastor oder der Gottesdienst oder der Glaube es vermögen, zu helfen und zu heilen, einem Trauernden Trost zu spenden, einem Verzweifelten neue Hoffnung zu geben, einem in sich Zerrissenen erneut innere Harmonie zu bescheren, warum nehmen wir das nicht an, sind ganz einfach dankbar dafür? Das 'Warum, Wieso, Wodurch' ist zweitrangig. Die Heilwirkung ist da. Sie ist unbestreitbar."

 

Wieder nickt Peter.

 

"Wahrlich, unsere Welt ist voller Schrecken, voller Haß, voller Bösem. Warum sollten wir nicht jede Möglichkeit ergreifen, um mit Hilfe des Christentums eine bessere Welt, ein besseres Ich anzustreben? Warum sollten wir uns die göttliche Gabe versagen, uns am Glauben aufzurichten, zu stärken? Der Gottesdienst, das Ritual, die Atmosphäre, die eine Kirche austrahlt, das gemeinsame Singen, das gemeinsame Beten - all das gibt dem Menschen neue Kraft, gibt dem Beladenen neue Zuversicht. Ohne diesen Rahmen und ohne den Glauben fehlt der Quell, der den Dürstenden laben kann. Hier durchbricht der Mensch mit seinem Gebet Grenzen. Hier kommt es zu einer Auflösung der Einsamkeit, zu einer Wegnahme der Angst, zu einer Verklärung des Menschseins. Und es kommt zu einer Vergeistigung seiner Sorgen, Hoffnungen und Wünsche. Hier entgrenzt sich die Tagesbeschränkung des Menschen ins Ewige."

 

"Den meditativen Aspekt habe ich in meinen Überlegungen zu wenig berücksichtigt."

 

"Dieses Suchen, dieses Eintreten in die große Halle wunderbarer Stille, es gleicht einem Hineinschweben in das Zentrum des Universums, einem Teilhaben am Herzschlag Gottes."

 

"Aber Meditieren ist nicht nur an Religion gebunden und schon gar nicht nur an das Christentum. Meditieren, dieses tiefe Sich-Besinnen, In-Sich-Hineinhören, dieses Sich-Sammeln und Entspannen, dieses Erleben mystischer, transzendentaler Kräfte und ihrer Wirkungen - und auch das Herbeiführen außergewöhnlicher seelischer und körperlicher Zustände und die Nutzung der Kräfte, die dadurch aktiviert werden - all das kann durch eine Reihe von Vorstellungen, Ritualen und Beschwörungen erreicht werden."

 

Der Pastor wiegt den Kopf. Er ist mit dem, was Peter da gesagt hat, nicht voll einverstanden. Aber er verzichtet darauf, diesen Diskussionspunkt weiter zu vertiefen. Nun spitzt er die Lippen, hebt den Zeigefinger: "Und vergessen wir die Liebe nicht! Diese höchste Gnadengabe des Herrn, die nur den Menschen zuteil geworden ist." Mit dem ihm eigenen tiefdringenden Blick sieht er Peter in die Augen. "Wahrlich, die Liebe ist etwas Großes, etwas, um das sich unser Menschsein rankt wie um einen unsichtbaren Pfeiler. Seit Menschengedenken hat sie Dichter und Denker in ihren Bann gezwungen. Was wäre ein Goethe ohne die Liebe? Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes etwas Einmaliges - die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die Liebe der Kinder zu ihren Eltern, ja, die Liebe zwischen Menschen überhaupt. Und natürlich die Liebe zum Herrn."

 

"Ja", sagt Peter und denkt an Inge, "die Liebe ist etwas Wunderschönes." Mit feinfühlenden Fingerspitzen streicht er sacht über den Bart. "Wirklich ganz wunderschön", sagt er noch einmal und senkt den Blick. Dann jedoch meldet sich wieder sein kritischer Verstand zu Wort: "Die Liebe hat viele Gesichter. Auch sie speist sich aus dunklen Quellen - Quellen, aus denen Sinnliches und Triebhaftes quillt. An den verschiedenen Gesichtern der Liebe sind sehr unterschiedliche Kräfte und Gefühle beteiligt. Neben dem Sehnen nach Glück, Partnerschaft und Selbstbestätigung, neben dem Wunder der Erfüllung gibt es da auch Süchte und Böses. Denken Sie nur einmal an die aus Liebe geborene Eifersucht, an die Macht der Eigenliebe. Hier kommen Gesichter der Liebe zum Vorschein, die in unserem Nachdenken über sie oft ein eher verstecktes Dasein führen: das Bestreben, etwas für sich allein in Anspruch zu nehmen, Besitzergreifung des Gegenstandes der Liebe und körperliche Befriedigung."

 

Der Pastor will etwas einwenden. Aber Peter bemerkt das gar nicht: "Auch die Liebe unterliegt dem alles regierenden Gesetz von Anziehung und Abstoßung. Nicht selten erweisen sich Liebe, narzißtische Schwärmerei, Egoismus und Sucht als Verwandte."

 

Mit seiner tiefen Baritonstimme sagt der Pastor ruhig: "'Seid niemand nichts schuldig', so steht es in der Bibel, 'denn daß ihr euch untereinander liebet; denn wer den anderen liebet, der hat das Gesetz erfüllt'. Liebe", fährt er fort, "ist auch die gute, die hilfreiche Tat. Liebe ist Zuwendung."

 

"Liebe", entgegnet Peter, "gibt es nicht nur bei Menschen. Ich sehe der menschlichen Mutterliebe Vergleichbares auch bei Tieren, zum Beispiel bei Affen, Hunden und Katzen." Er pafft. Dann nickt er mehrmals, ganz leicht nur, aber mit Bestimmtheit. Er pflichtet einem in ihm aufflackernden Gedanken bei, bevor er diesen noch formuliert und ausgesprochen hat: "Nur den Menschen zuteil geworden", sagt er schließlich, "ist etwas anderes. Mehr als alle seine Mitgeschöpfe ist der Mensch dazu fähig, den Gegenstand seiner Liebe zu quälen, ja, zu töten."

 

Der Hausherr erhebt sich, geht zum Kamin, schiebt Asche beiseite, legt Holz nach, richtet Scheite. "Müssen wir denn immer alles nur mit dem Verstand erfassen wollen?", fragt er über die Schulter, "alles bis ins Kleinste analysieren? Alles in Erfahrung bringen, was in Erfahrung zu bringen ist?"

 

Er kommt zurück, gießt Wein nach und setzt sich wieder. "Die Bibel sagt: 'Verlaß dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlaß dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an Ihn in allen deinen Wegen, so wird Er dich recht führen.'" Der Pastor nimmt einen Schluck Wein zu sich. "Sie wissen es selber, Peter: Der forschende Verstand beschert uns täglich neue Erkenntnisse. Aber die Wissenschaft stellt uns täglich auch vor neue Probleme. Die Wissenschaftler errichten Gedankengebäude, auf deren Zinnen uns schwindelig wird. Sie stellen uns vor Abgründe, vor denen uns schaudert. Aber sie geben uns keinen Halt, keine Stütze. Sie lassen uns in der Kälte stehen, in der Kälte der Einsamkeit, des Alleinseins auf Erden, in der Eiseskälte des leeren Weltraums."

 

Der Pastor senkt den Kopf. Nachdenklich betrachtet er seine Hände. Diese Hände, die so viel gesegnet, so viel berührt, so viel getröstet haben. Dann fährt er fort: "Wahrlich, ich sage Ihnen, wir sind nicht umgeben von Leere und Kälte. Wir sind umgeben von einem Universum voller Liebe und voller Harmonie. Und wo diese Liebe und diese Harmonie sich in den Menschen verbinden zu einem mächtigen Strom des Glaubens, da wächst die Hoffnung, da erblüht die Zuversicht. Da wird uns die Gewißheit der Gnade und Barmherzigkeit Gottes."

 

"Ich wünschte mir, ich könnte das so sehen wie Sie. Ich wünschte mir, ich könnte daran glauben."

 

"Viele Menschen frieren in der Rationalität der Wissenschaft. Sie sehnen sich nach Wärme, Gemeinsamkeit, Harmonie und Orientierung. Nicht von ungefähr gibt es im Menschen ein starkes Bedürfnis nach Religion. Ich rechne die Religion zu den Grundbedürfnissen der Menschheit. Was immer die Wissenschaft zu leisten vermag, ethische Orientierung und moralische Führung kann sie uns nicht geben."

 

Der Pastor nippt an seinem Weinglas. "Und welcher Art sind sie denn, die Erkenntnisse der Wissenschaft? Bringen sie den Menschen wirklich etwas - etwas außer Schwindelgefühl, Schaudern vor Abgründen und Zittern vor Kälte? Viele Erkenntnisse der Wissenschaft bringen den Menschen Not und Tod, und das in der vielfältigsten Weise. Fast alle großen Probleme, vor denen wir heute stehen, sind in letzter Konsequenz Auswirkungen der Wissenschaft: Umweltzerstörung, Vernichtung ganzer Tier- und Planzenarten, Hunger, Verkrüppelung und Hinschlachten von Millionen unschuldiger Menschen. Beflügelt von Wissenschaft und Technologie haben sich die Menschen in den Industrienationen auf Kosten der Armen in den sogenannten Entwicklungsländern und auf Kosten der Umwelt rücksichtslos bereichert. Und denken Sie einmal an die furchtbaren modernen Massenvernichtungswaffen!" Der Pastor entzündet seine Zigarre. "Die Wissenschaft hat nicht nur Augen zum Sehen und Ohren zum Hören, sie hat auch Fäuste zum Schlagen. Atombomben, Wasserstoffbomben, Neutronenbomben, Chemiewaffen, biologische Waffen, all diese entsetzlichen Massenvernichtungstechnologien, die heute den Menschen - selbst irrsinnigen Potentaten - zur Verfügung stehen, sie sind die Früchte der Wissenschaft. Wo soll sie hinführen, diese sich ständig selbst verstärkende und beschleunigende wissenschaftlich-technologische Entwicklung? Wo sollen sie enden, diese Wahnvorstellungen vom Alles-Wissenwollen, vom rücksichtslosen Sich-Selbst-Verwirklichen? Was soll er uns bescheren, dieser wildgewordene Reigen von Trieb, Genußsucht, Aggression, Machtstreben, Erkenntnisgewinnung und genialischem Wahn?

 

Sie haben gesagt", fährt der Pastor fort, "das Christentum habe die Ur-Völker in Amerika, in Afrika und sonstwo ihrer kulturellen und religiösen Wurzeln beraubt. Hat nicht die Wissenschaft die ganze Menschheit entwurzelt? Stürzt sie nicht uns alle in einen Strudel von Zerstörung und Verderben? Ja, die Wissenschaft ist die Wurzel vielen Übels. Sie ist der Motor, der die Selbstvernichtung der Menschheit in Gang gesetzt hat, der diesen fürchterlichen Prozeß ständig anheizt und beschleunigt. Wo bleiben da die Besonnenen, die In-sich-Gekehrten, die Gläubigen? Wahrlich, es werden ihrer immer weniger."

 

Peter nickt. Was der Pastor da gesagt hat, berührt ihn tief. "In vielem", sagt er bedrückt, "was Sie da gesagt haben, muß ich Ihnen zustimmen. Die Wissenschaft ist Erkenntnisquelle und Vernichtungsquelle in einem. Sie trägt das Licht ins Dunkel, so können wir sehen. Aber das Licht der Wissenschaft ist kein kaltes Licht. Es ist das Licht des Feuers. Wissenschaft erhellt und erleuchtet nicht nur, sie setzt auch in Brand, entzündet und zerstört. Die Feuergefährlichkeit der Wissenschaft ist im Taumel der Erkenntnisfreude unterschätzt worden."

 

"Wahrlich, das ist sie." Der Pastor betrachtet seine Zigarre und pafft einige Rauchwölkchen vor sich hin. "Ganz gewiß."

 

"Aber", entgegnet Peter, "können wir auf das Feuer verzichten, weil es nicht nur wärmt, leuchtet und für uns arbeitet, sondern auch vernichtet, sich gegen uns richten kann? Wie das Feuer, so sind doch auch die Wissenschaft und die von ihr erarbeiteten Erkenntnisse weder gut noch böse. Die Menschheit entscheidet darüber, was sie damit macht."

 

"Da gibt es Grenzen. Die Bibel gebietet: 'Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter'."

 

"Für Auseinandersetzungen zwischen Menschen", fährt Peter fort, "liefert die Wissenschaft Methoden, nicht aber Motive. Ich kenne keinen Krieg, den Wissenschaftler begonnen hätten, und keinen, der für die Durchsetzung wissenschaftlicher Ideen geführt worden wäre, schon gar nicht für die Erweiterung wissenschaftlicher Macht." Seine Pfeife beiseitelegend, schüttelt er den Kopf: "Wir dürfen das Feuer des Wissenwollens nicht löschen, nur weil wir uns daran verbrennen können oder weil wir uns fürchten vor dem, was uns sein Schein enthüllen mag. Wenn wir vor uns selbst bestehen wollen, wenn wir uns neu einrichten wollen in dieser sich wandelnden Welt, dann müssen wir den Mut aufbringen, Licht zu machen und uns umzusehen. Nur wenn wir sehen, wo wir stehen, nur wenn wir erkennen, was uns umgibt, nur wenn wir uns bemühen zu begreifen, woher wir kommen, wer wir wirklich sind - nur dann können wir zu uns selber finden, Mensch sein, Mensch werden. Nur dann können wir angemessen reagieren."

 

"Angemessen reagieren, ja, aber was bedeutet das? Letztlich ist doch entscheidend, was das Reagieren bewirkt, wohin es führt. Und da stellt sich mir die Frage: Was bekommt dem Menschen langfristig besser - religiöse Unterwerfung unter Gott oder intellektuelle Auslieferung an die Wissenschaft?"

 

"Keine Auslieferung! Mit der Wissenschaft leben, sie uns nutzbar machen, aus ihr Wahrheit gewinnen, Einsicht und Weisheit."

 

"Woher kommt die Weisheit? Und wo ist die Stätte der Einsicht? Die Weisheit ist verhüllt vor den Augen aller Lebendigen. Gott allein weiß den Weg zu ihr. Er allein kennt ihre Stätte. Ich sage Ihnen, Peter, alles Suchen des Menschen nach Wissen und Weisheit mündet am Ende im Religiösen." Mit gefurchter Stirn sieht der Pastor hinüber ins Feuer des Kamins. Dann sagt er: "Wir werden hier keine vollständige Übereinstimmung in unseren Ansichten und Überzeugungen erzielen. Aber das haben wir ja auch nicht erwartet. Oder?"

 

"Nein, das haben wir nicht." Peter fährt mit unruhigen Fingern in seinem Bart herum. "Aber ich möchte doch noch etwas hinzufügen dürfen. Das Leben, das wir Menschen heute führen, ist ohne Wissenschaft nicht möglich. Ohne Wissenschaft könnten wir weder unseren Lebensstandard halten, noch könnten wir Milliarden von Menschen ernähren, noch uns ihrer Krankheiten annehmen, noch unsere Zukunft planen. Ein Zurück gibt es nicht, es sei denn, wir akzeptieren den Weg in die Katastrophe."

 

"Ja", sagt der Pastor mit einem Anflug von Bitterkeit, "soweit haben sich die Dinge schon entwickelt. Soweit haben wir es schon gebracht."

 

"Die Wissenschaft", gibt Peter zu bedenken, "ist nicht nur Erkenntnisquelle für den Neugierigen, sie ist auch die wichtigste Investition der Menschheit in die Sicherung ihrer Existenzgrundlagen und in die Gestaltung ihrer Zukunft."

 

"Auch ich hoffe", entgegnet der Pastor, "daß der große Aufwand an finanziellen Mitteln und geistigem Bemühen vieler unserer besten Köpfe nicht nur Bewährtes in Frage stellt, nicht nur Unsicherheit verursacht und Zerstörung, sondern auch konstruktive Hilfe leistet für die Gestaltung unseres Lebens und des Lebens unserer Kinder. Vor allem darin sehe ich als Geistlicher die Berechtigung wissenschaftlicher Forschung."

 

Der Pastor erhebt sich und schenkt Wein nach. Dann sagt er: "Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich bin gleich zurück." Er verläßt das Wohnzimmer.

 

Allein, fährt sich Peter, den letzten Gedankenaustausch rekapitulierend, mit Zeige- und Mittelfinger durch den Bart. Er überlegt, ob er zu weit gegangen ist in seinen Äußerungen. 'Nein', sagt er sich schließlich, 'nein, das bin ich nicht. Ich meine sogar, daß das Gespräch bisher ganz gut verlaufen ist. Besser jedenfalls, als ich befürchtet hatte.' Er greift zum Glas. 'Der Wein schmeckt wirklich gut.'

 

Der Pastor kommt zurück. Besorgt blickt er auf seine Armbanduhr: "Wo nur die Inge bleibt! Ich hoffe, sie hat ihrer Freundin helfen können und wird bald zurück sein!" Mit einem leisen Seufzer nimmt er wieder in seinem Sessel Platz und greift zur Zigarre. "Noch ein Wort zur Ethik. Die biblischen Zehn Gebote präzisieren die ethischen Richtlinien des Christentums. Sie formen die Grundlage für menschliches Miteinander. Die Verkündigung dieser göttlichen Gebote und die ständige Ermahnung der Kirche, diese auch einzuhalten, das sind Grundpfeiler unserer Kultur."

 

"Wohl wahr. Aber so manche Forderungen der christlichen Ethik schießen auch über das Ziel hinaus. Sie haben keine Basis in der Natur. Die Konsequenz utopischer Christenethik ist ein zunehmendes Auseinanderfallen von Glauben und Wissen, von Sollen und Handeln. Im übrigen ist die Essenz der Zehn Gebote Bestandteil fast jeder Religion und Kultur. Diese Richtlinien können nicht als etwas spezifisch Christliches in Anspruch genommen werden. Sie sind grundsätzliche Anleitungen für menschliches Verhalten und haben dementsprechend ihren Niederschlag auch in weltlichen Gesetzbüchern gefunden. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, daß diese Richtlinien an sich mit Religion wenig zu tun haben. Das, was den Kern der Religion ausmacht, das ist der ausschmückende, historische, mystische und rituelle Rahmen, in dem diese ethischen Forderungen jeweils angeboten werden. Und auch da habe ich beim Christentum Kritik anzumelden."

 

"Soo??" Der Tonfall des Pastors hat sich geändert.

 

Peter spürt, daß er sich einer Grenze nähert. Er wird unsicher. Er schweigt. Und er ermahnt sich abermals zur Zurückhaltung. Dann aber sagt er: "Mir ist da vor kurzem ein Buch in die Hände geraten. Es trägt den Titel: "Die Fünf Weltreligionen." *

 

"Der Autor, Professor für Indologie und vergleichende Religionswissenschaften, schreibt über Brahmanismus, Buddhismus, Chinesischen Universismus, Christentum und Islam. Seine Darstellungen, Analysen und Synthesen bestechen durch Sachkenntnis und Sorgfalt. Unter anderem kommt er zu dem Schluß, daß es nicht nur christliche, sondern auch außerchristliche Zeugnisse gibt für eine historische Existenz Jesu."

 

"Wahrlich, derer gibt es viele."

 

"Als historischer Kern ergibt sich seiner Ansicht nach etwa folgendes Bild. Jesus war der älteste Sohn des Joseph und der Maria. Er hatte noch mehrere Schwestern und vier Brüder, Jakobus, Joses, Judas und Simon. Jesus war ungefähr dreißig Jahre alt, als er mit seiner öffentlichen Tätigkeit begann. Diese hat insgesamt offenbar nur ein einziges Jahr oder wenig länger gedauert. Eine außerordentlich kurze Zeitspanne, gemessen an den jetzt schon fast zweitausend Jahre währenden immensen Wirkungen, die seine Tätigkeit verursacht hat. Jesus verkündete Lehren, die vor ihm bestanden hatten, vor allem Lehren des Judentums. Seine originäre Leistung bestand nicht darin, daß er - wie dies später der eher fanatisch missionierende Paulus getan hat - ein neues theologisches System schuf, sondern daß er überkommenen Lehren eine besondere Ausschmückung und einen besonderen Charakter gab. Durch wundervolle, gefangennehmende Gleichnisse, die seiner Welt als Bauhandwerker entlehnt waren, und durch kernige Formulierungen verlieh er dem Überkommenen eine starke Ausstrahlungskraft."

 

Der Pastor nickt.

 

"Unsere Welt aber war Jesus völlig fremd. In dem Maße, in dem sein Wirken unter den Menschen seiner Zeit ein Echo fand, fühlte er sich - wie viele andere Menschen vor und nach ihm - als göttlicher Verkünder und Erlöser. Seine Muttersprache war aramäisch. Die Rekonstruktion dessen, was er gesagt hatte, wurde durch große Lücken in der Dokumentation erschwert und durch absichtsvolles Um- und Ausdeuten der Chronisten in vielfältiger und meist undurchschaubarer Weise abgewandelt und ergänzt. So weichen die Texte seiner Predigten in der Literatur oftmals erheblich voneinander ab. Auch der mir befreundete junge Doktor der Theologie kam bei seinen Nachforschungen zu dem Schluß, daß in den Evangelien Wortwendungen überliefert sind, die nicht auf Jesus zurückgeführt werden können. Sie sind Jesus erst lange nach seinem Tod zugeschrieben worden. Zeit verändert. Zeit verfremdet. Wo keine historische Kontinuität besteht, wird Erinnerung rasch lücken- und fehlerhaft. Offenbar waren die Evangelisten bestrebt, das schändliche Scheitern ihres Messias im Nachhinein umzudeuten in einen gottgewollten Plan und in einen glorreichen Sieg."

 

Da der Pastor nichts sagt, fragt Peter: "Wer war Jesus wirklich? Was ist der Kern der heute erkennbaren historischen Wahrheit? Jesus war ein israelitischer Prophet von hoher Sensibilität und Impulsivität. Aus sorgfältigen Literaturstudien hat mein theologischer Freund den Schluß gezogen, daß Eltern und Geschwister Jesus für radikal, ja, zeitweise für verrückt gehalten haben. Jesus konnte sanft sein aber auch grob, anziehend aber auch abstoßend, extrem in der Forderung nach Einhaltung von Gesetzen, aber auch grundlos großzügig im Vergeben. Es gibt viele verschiedene Vorstellungen über diesen Messias. Nach den meisten Chronisten war Jesus ein aufrechter, einfacher Mann. Immer wieder hat er vergeblich gehofft, daß Gott sich zu ihm bekennen möge. Vermutlich hat er sehr darunter gelitten, daß dies niemals geschehen ist."

 

Peter schweigt eine Weile. Dann fährt er fort: "Für Jesus war ein direkter Weg zu Gott das Gebet. Dabei entriet er aber der Zurschaustellung. Und ein Gebet sollte nichts enthalten, das Gottes Wesen widerspricht, auch nichts, das anderen Menschen Nachteil bringt. Also darf man im Krieg nicht um den eigenen Sieg bitten. Das 'Vaterunser' ist nicht seine Schöpfung. Alle Bitten in diesem Gebet fußen auf jüdischen Vorbildern. Das Judentum, eine Hochreligion, die aber den nationalen Bereich nicht überschritten hat, ist die geschichtliche Voraussetzung für das Wirken und Wollen Christi."

 

Peter überlegt, ob er weiterreden soll. Aber dann sagt er sich, 'es muß sein, es muß jetzt alles auf den Tisch.' "Das Symbol des Christentums ist das Kreuz. Aber so mancher Chronist bezweifelt, ob Jesus wirklich am Kreuz gestorben ist. Keiner seiner Jünger, keiner der Überlieferer dessen, was damals geschah, war dabei als Jesus starb."

 

"Das Todesurteil", sagt der Pastor, "wurde von einem römischen Gericht gefällt. Die Kreuzigung ist eine römische Hinrichtungsart, keine jüdische."

 

"Ja", nickt Peter, "die Römer verurteilten zu dieser ihrer furchtbarsten Strafe desertierte Soldaten, Aufständische und entlaufene Sklaven. Der Verurteilte starb unter entsetzlichen Qualen. Meist dauerte das länger als einen Tag. Nach der Überlieferung war für Jesus schon nach sechs Stunden alles vorüber. Dann erbat und erhielt ein angesehener Bürger aus Jerusalem den vom Kreuz Genommenen und bestattete ihn im eigenen Familiengrab. Alle Jünger waren geflohen. Eine totale Niederlage ohne jede Größe."

 

Peter sieht den Pastor an. Der blickt vor sich hin. "Die Wende kam erst später, vor allem mit Paulus. Der hatte Jesus nie gekannt Aus dem Tod Jesu entwickelte er ein Gedankengebäude, das viele Menschen gefangen nahm. Paulus erfand den Mythos der Auferstehung. Er machte aus der Auferstehung die göttliche Bestätigung des Messias, die es tatsächlich niemals gegeben hat."

 

"Paulus ..."

 

"Paulus war der erste Theologe. Er erschuf nicht nur den Sohn, sondern auch den Vater: den Gott der Theologen. Paulus pervertierte das Lebensbejahende des Jesus in eine naturfremde Lebensverneinung. Der Gott des Paulus und der Gott der Theologen ist nicht der Gott des Jesus."

 

Peter pafft. Dann sagt er: "Das Christentum lehrt Barmherzigkeit, aber es ruft auch auf zu erbarmungslosem Kampf gegen Andersgläubige. Es verschreibt sich der Nächstenliebe, aber es verkündet auch ein Heil, das aus einem Menschenopfer kommt. Es ist eine merkwürdige Mischung aus Vergebung und Verdammung, aus Liebe und Drohung."

 

"Wie meinen Sie das, Drohung?"

 

"Ist das keine Drohung, wenn es in der Bibel heißt: 'Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden'? Ist das Jüngste Gericht keine Drohung? Sollen da nicht alle guten und alle bösen Taten eines jeden Menschen erbarmungslos gegeneinander aufgerechnet werden?"

 

"Die Bibel sagt: 'Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.'"

 

"Wie kann der Christengott beides sein, barmherziger Schöpfer und unbarmherziger Richter? Wie paßt denn das zusammen? Und wenn dieser Gott die Menschen erschaffen hätte, so würde er doch am Ende zu Gericht sitzen über seine eigenen Taten. Beim Jüngsten Gericht würde er sich selber Noten geben, nichts sonst."

 

Peter klopft seine Pfeife aus im Aschenbecher. "Und was eigentlich bedeutet Bestrafung durch den Christengott? Ich sehe nur Willkür. Die trifft den Guten wie den Bösen. Warum Strafe und Leid auch für streng Gläubige? Es gibt da keinerlei erkennbare Kausalität."

 

"Kausalität! Das Suchen nach einem Grund führt meist nicht weit. Die Bibel sagt: 'Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christ'."

 

"Die Kirchenoberen machen aus so manchem Göttliches. Und sie behaupten zu wissen, was dem Menschen zusteht. Was aber steht ihm zu?" Peter schüttelt den Kopf. Dann sagt er: "Mich hat noch etwas anderes nachdenklich gestimmt."

 

"Was?"

 

"Warum hat Jesus gesagt, 'ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert'?"

 

"Jesus ging es vor allem um Frieden innerhalb eines Volkes, nicht zwischen Völkern. Dennoch, im Kern heißt die Botschaft: 'Friede auf Erden'."

 

"Das ist auch wieder so eine Botschaft, über die offenbar kaum jemand wirklich nachgedacht hat."

 

"Wie können Sie so etwas behaupten?!"

 

"Bitte lassen Sie uns das einmal durchdenken."

 

Widerstrebend willigt der Pastor ein.

 

"Frieden ist für mich Zusammenleben von Individuen oder Gruppen ohne beschädigende Gewalt, geregelt durch einvernehmliche Ausarbeitung, Anerkennung und Anwendung von Ordnung mit dem Ziel einer Entschärfung von Gegensätzen durch Kompromisse." Er sieht fragend zum Pastor hinüber.

 

Der nickt.

 

"Frieden beinhaltet Verzicht auf Gewalt zur Durchsetzung eigener Ziele sowie die Befolgung konfliktbegrenzender Vereinbarungen. Frieden ist also mehr als die Abwesenheit von Krieg."

 

"Einverstanden."

 

"Können wir uns dann auf die Kurzformel einigen: Frieden ist ein Zustand sich fortschreibender, gewaltfreier oder doch einvernehmlich gewalteinschränkender Koexistenz?"

 

"Ja."

 

"Das ist ein Zustand, der im Programm der Entstehung und Entfaltung irdischen Lebens nicht vorgesehen ist. Das ist etwas von der Schöpfung nicht Gewolltes. Die Natur zwingt alle ihre Geschöpfe, auch den Menschen, unerbittlich zu fortgesetzter Gewaltanwendung, und zwar insgesamt in unerhörtem Ausmaß. Dieser unbestreitbare Sachverhalt widerspricht zugleich auch anderen christlichen Geboten, so dem Gebot 'Du sollst nicht töten'. Wir müssen töten um zu leben. Jeden Tag. Jeder Bissen unserer Nahrung enthält Teile anderer Lebensformen, die wir vorher töten mußten oder die wir töten, indem wir sie verzehren. Das ist die Realität. Wer das nicht sieht, ist blind!"

 

"Sie sehen manches zu einseitig. Jesus hat auch gesagt: 'Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habet'. Hier, in den beiden Worten 'in mir', liegt der Kern der christlichen Botschaft. Wer gerecht geworden ist durch den Glauben, der hat Frieden in und mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christ."

 

Jedes Wort abwägend, setzt Peter seinen Gedanken fort: "Welche Kraft, mit welcher Botschaft auch immer, diese auf Konflikt, Gewaltanwendung und Töten beruhende irdische Ordnung geschaffen hat, sie kann unmöglich gleichzeitig die Forderung erheben: 'Friede auf Erden!' Das wäre blanker Hohn. Aus meiner Sicht stammt die Gott in den Mund gelegte Forderung 'Friede auf Erden' von Menschen, von solchen, die es nicht besser wußten, oder von solchen, die es besser wußten und daher gelogen haben. Wie viele andere Forderungen der Bibel, so ist auch diese Forderung bestenfalls Wunschdenken. Den Christengott als Schöpfer irdischen Lebens zu sehen und ihm gleichzeitig die Botschaft vom Frieden und das Gebot 'Du sollst nicht töten' zuzuschreiben, das paßt nicht zusammen."

 

Den Pastor beginnen diese so rücksichtslos dahin geschleuderten Angriffe auf seine Religion zu schmerzen. Seine Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Natürlich weiß er, was ein Bruch zwischen ihm und Peter für seine Tochter bedeuten würde. Seine tiefe Liebe zu Inge gibt ihm die große Kraft, die er jetzt braucht, um dieses Streitgespräch durchzustehen, um die harte Kritik des jungen Wissenschaftlers an seiner Religion, an seinem Herrn, zu ertragen. Leise sagt er: "Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir, daß ich sicher wohne."

 

"Kein Wunder also", fährt Peter hartnäckig fort, "daß der Mensch als Produkt der Natur so große Schwierigkeiten hat mit der Herstellung und Bewahrung von Frieden. Aber mit ihrer gewaltigen Veränderungs- und Vernichtungsmaschinerie können die Menschen ohne Frieden nicht überleben. Sie müssen daher lernen, Frieden zu organisieren, groteskerweise notfalls mit Gewalt. Die Natur hilft ihnen da nicht weiter, die Schöpfung läßt sie da im Stich. Die Fähigkeit zum Frieden müssen wir uns selbst mühsam erarbeiten. Niemand und nichts bringt oder schenkt uns Frieden. Wir selbst müssen ihn erringen. Das ist die Botschaft!"

 

Der Pastor wiegt den Kopf. Er hat seine Fassung zurückgewonnen.

 

"Frieden auf Erden", fährt Peter fort, "kann es niemals geben, Frieden unter Menschen nur, wenn wir die uns von der Natur verliehenen Eigenschaften zu ändern oder doch zu kontrollieren vermögen."

 

"Voraussetzungen für Frieden", entgegnet der Pastor "sind Bescheidenheit, Achtung der Menschenwürde und eine als gerecht empfindbare soziale Weltordnung. Hinzu kommt die höchste Tugend der Politik: Mut zum Ausgleich. Ich sehe manches anders als Sie. Aber Ihre Sicht hat ihr eigenes Gewicht. Frieden ist ein hohes Ziel, dem wir uns ständig neu verpflichten müssen. Gewalt hat viele Gesichter und viele Masken. Was wir lernen müssen, das ist die Anwendung von Gewalt innerhalb anerkannter Regeln und Gesetze, und zwar im weltweiten Maßstab." Nach einer Pause fügt er hinzu: "Im christlichen Glauben hat der größte Teil der Menschheit seit zweitausend Jahren gelebt und überlebt. In ihm wurzeln die geistigen Vorstellungen der meisten Menschen auch noch heute."

 

Peter nickt. "Im Grunde zwei nicht unähnliche Perspektiven."

 

"Zwei ähnliche Perspektiven", sagt der Pastor. "Und wir sollten daher auch gemeinsam versuchen, zurückzufinden zu den Wurzeln dessen, was Jesus wirklich gewollt hat. Die Essenz der Lehren Jesu hat in zweitausend Jahren nichts von ihrer Bedeutung für den Menschen verloren, und sie hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Im Kern der Lehren Jesu liegt die Hoffnung für die Zukunft der Menschheit. In Seinen Lehren schlummern die Kräfte, denen der Mensch nicht entsagen darf, wenn er die Herausforderungen unserer Zeit bestehen will."

 

Peter fingert in seinem Bart. Er nickt. 'Der Pastor hat da nicht unrecht', denkt er. Und er denkt auch, 'der Mann fordert mir Respekt ab.' Aber dann führt ihn plötzlich ein neuer Gedanke zurück zu seiner Argumentation von vorhin: "Noch etwas anderes, das Jesus laut Bibel gesagt hat, habe ich mir eingeprägt. Er hat gesagt: 'Ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter." Und dann hat er noch gesagt: 'Wer Vater oder Mutter oder Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.'"

 

Das trifft den Pastor mitten ins Herz. Auch er kennt natürlich Bibelstellen, die ihm Schmerzen bereiten. Die so gar nicht in das Bild passen, das er von seinem Herrn und von dessen Lehren in sich trägt. Aber diese Bibeltexte sind in einem solchen Ausmaß in der Minderheit, und ihr Sinn läßt so manche Deutungsmöglichkeit zu, daß er sie immer wieder zugedeckt hat, daß er sie überdeckt hat mit all dem Schönen, all dem Großartigen, das da geschrieben steht in der Bibel. Er verfügt über sehr viel Wohlwollen, und er kann sehr viel Kritik ertragen. Aber diese Hartnäckigkeit des jungen Wissenschaftlers, diese Rücksichtslosigkeit, mit der er argumentiert, das geht ihm allmählich doch zu weit. Inges Freund kann wirklich sehr aggressiv sein. Ist er zu unerbittlich? Kann man das alles nicht auch anders sagen? Oder ist er einfach zu offen? Gilt ihm die Suche nach der Wahrheit mehr als alles andere?

 

Der Pastor gibt sich große Mühe, gerecht zu bleiben, seine Zusage einzuhalten. Hatte er Peter nicht aufgefordert, offen seine Meinung zu sagen? Und hatte er ihm nicht auch zugesagt, sich seine Kritik anzuhören? So sagt er jetzt: "Das ist mir alles zu pointiert vorgetragen und zu einseitig herausgesucht aus einer Fülle sehr positiver Lehrinhalte und wundervoller Offenbarungen. Auf diese Weise muß natürlich ein verzerrtes Bild entstehen."

 

Der Pastor erhebt sich und sieht nach dem Feuer. Zurückkommend läßt er sich schwer in den Sessel fallen. Er nimmt einen Schluck Wein zu sich. Dann wendet er sich Peter zu: "Ich hatte Ihnen gesagt, daß ich versuchen will, Ihnen geduldig zuzuhören. Also, bitte, machen Sie weiter, vollenden Sie Ihre Kritik."

 

Peter ist abermals im Zweifel, ob er fortfahren soll. Er sieht hinüber zum Pastor. Seine Augen versinken in dessen ernstem, tiefdringendem Blick. Einen Augenblick lang wagt er nicht zu sprechen. Erst als der Pastor aufmunternd nickt, findet er zu sich zurück: "Was haben die Kirchenoberen aus den Lehren Christi gemacht? So manche Vertreter der heutigen Kirche wollen nicht drängelnde Denker, sie wollen duckende Diener. Sie wollen nicht Aufrechte, sie wollen Gebeugte. Nur wer den Kopf senkt, nur wer mitläuft, kommt weiter."

 

"Selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; darum widersetze dich nicht der Zucht des Allmächtigen."

 

"Leben heißt voranschreiten, sich korrigieren, sich weiterentwickeln. Das alles suchen diese Leute verbissen zu verhindern. Gezielt verhüllen oder verbrämen sie die Ergebnisse kritischer Religionsforschung. Diese Leute sind Meister geworden im Konservieren. Sie machen die Kirche zur Mumie!"

 

Als der Pastor nicht antwortet, fährt Peter fort: "Im letzten Jahr war ich im Krankenhaus. Dort wurden mir die Mandeln entfernt. Leider hatte ich vergessen, mir etwas zu lesen mitzunehmen. Da fand ich ein Exemplar der Bibel in der Schublade meines Nachttisches. Ich war immer der Ansicht gewesen, die Bibel sei ein gutes Buch. So habe ich darin gelesen. Immer wieder. Ich habe verschiedene Texte miteinander verglichen, habe versucht, Zusammenhänge herzustellen, in das einzudringen, was da wirklich geschrieben steht. Ich habe nicht einen Vers gelesen und dann darüber meditiert, sondern ich habe versucht, mit kritischem Abstand mir eine Übersicht über das zu verschaffen, was da eigentlich drin steht in diesem Buch. Das hat mich so aufgeregt, daß ich die ganze Nacht kein Auge schließen konnte. Das Alte Testament strotzt vor bitter-süßen Geschichten, vor..."

 

"Das Alte Testament reicht weit zurück, in die Zeit, als das Volk Israel aus der Wüste in das verheißene Land zog."

 

"... vor Betrügereien und Unsittlichkeiten, vor Greueltaten und Morden, vor Unfug und ..."

 

"Herr Doktor!!!"

 

Mit lautem Aufprall fällt das Gartentor ins Schloß, hallt Laufschritt herüber aus dem Garten. Die Haustür wird aufgerissen und dann die Tür zum Wohnzimmer.

 

Da steht sie nun, zu Tode erschrocken und weiß wie Kreide. Sofort erkennt Inge: Das Gewitter hat stattgefunden. Mit vor Furcht bebenden Lippen fragt sie: "Habt ihr euch gestritten?"

 

"Sei unbesorgt", sagt der Pastor, scheinbar völlig ruhig. Er steht auf, geht hinüber zu seiner Tochter und nimmt sie in den Arm. Aber Inge spürt, daß er zittert. "Nun erzähl uns erst einmal, wie es bei dir, bei deiner Freundin, gegangen ist. Danach werden wir dann über unser Gespräch berichten."

 

Inge schluckt. Sie braucht einen Augenblick, um sich zu sammeln. Unsicher beginnt sie zu erzählen, stockend zuerst, dann in zunehmendem Maße voller Mitleid und Sorge. Sie setzt sich in den dritten Sessel. Nur das Wichtigste erzählt sie. Dabei blickt sie immer wieder von dem einen zum anderen. Peter hält den Blick meist gesenkt. Der Pastor ist voller Anteilnahme. Er fragt, ob er helfen kann.

 

"Nein. Was überhaupt an Hilfe und Trost möglich war, das habe ich getan. Morgen in aller Frühe werde ich wieder zu ihr fahren." Wieder blickt Inge voller Angst auf die beiden Männer. Hin und her irrt ihr Blick. Von einem zum anderen. "Und wie ist es bei euch gegangen?"

 

Mit einer Handbewegung lädt der Pastor Peter ein, auf diese Frage zu antworten. Der aber schüttelt abwehrend den Kopf und sagt: "Herr Pastor, Sie sind der Ältere und der Erfahrenere ... und auch der Bessere, um unsere Diskussion für Inge zusammenzufassen."

 

Der Pastor schmunzelt: "Nicht ungeschickt." Er erhebt sich, holt ein drittes Glas. "Laßt uns zunächst einmal anstoßen, alle drei." Mit zitternder Hand füllt er die Gläser.

 

Dann sagt er mit seiner tiefen Baritonstimme ganz ruhig: "Zum Wohl, ihr beiden."

 

"Zum Wohl", antwortet Peter mit trockener Kehle.

 

Die drei trinken.

 

Das alles gibt dem Pastor Gelegenheit, die Fassung wieder zu erlangen, zu überlegen, was er sagen wird.

 

Als sie getrunken haben, sagt Inge: "Es war sehr leichtsinnig von mir, euch beide ohne Aufsicht so lange allein zu lassen."

 

Die beiden Männer lächeln gequält. Peter schämt sich des von ihm verursachten Streites.

 

Abermals nimmt der Pastor einen kleinen Schluck Wein zu sich. Und dann formuliert er seine Antwort auf Inges Frage. Langsam, jedes Wort sorgfältig abwägend, beginnt er: "Unser Gespräch war offen und schon aus diesem Grunde ein gutes Gespräch." Er blickt hinüber zu Peter. Als der nickt, fährt er fort: "Wir sind sehr verschieden in unseren Erfahrungen, Ansichten und Überzeugungen. So haben wir auch aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und argumentiert. Das hat auch zu - Kontroversen geführt. Ich kann keineswegs alles akzeptieren, was Peter gesagt hat. Und ihm wird es mit meinen Entgegnungen nicht anders gehen. Aber wir respektieren unsere Verschiedenartigkeiten." Erneut sieht er Peter an. Der nickt jetzt heftig. "Keiner hat versucht, den anderen über den Tisch zu ziehen, wie man so sagt. Daher sind die Unterschiede auch bestehen geblieben. Wir haben viel übereinander in Erfahrung gebracht. Ich für meinen Teil meine, daß dieses Gespräch nicht nur notwendig war, sondern auch nützlich." Wieder nickt Peter. "Dieses Streitgespräch mußte geführt werden, früher oder später. Das Bekenntnis zu unseren Übereinstimmungen, aber auch zu den zum Teil unüberbrückbaren Unterschieden hat die Funktion eines reinigenden Gewitters gehabt. Und es hat, glaube ich, auch eine Grundlage geschaffen, auf der wir langfristig miteinander leben, ja gute Freunde werden können."

 

"All dem kann ich voll und ganz zustimmen." Peter sieht den Pastor an mit einem Blick voller Bewunderung und tiefer Dankbarkeit. "Das haben Sie wunderbar gesagt, Herr Pastor." Und dann sagt er: "Es war gut, daß ich Ihnen den Vortritt gelassen habe. So korrekt und so fair hätte ich das nicht sagen können. Auch ich bin sehr froh darüber, daß wir mit diesem Gespräch eine Grundlage geschaffen haben, an der sich zukünftige, auch kontroverse Diskussionen werden messen lassen müssen. Ein Pastor und ein Wissenschaftler, das ist eine brisante Mischung. Da muß man vorsichtig umgehen mit dem Feuer."

 

"Ja", sagt der Pastor, "besonders, wenn man Raucher ist."

 

Und nun lachen alle drei.

 

Peter steht auf, geht auf den Pastor zu. Der erhebt sich ebenfalls. Sie reichen einander die Hand, schütteln sie ganz fest, nähern sich einander, deuten gar eine Umarmung an. Dann nehmen sie wieder Platz.

 

Abseitsstehend holt Inge tief Luft. Die Hand streicht über tränenfeuchte Augen. Sie läßt die Schultern sinken und entläßt einen für die Männer unhörbaren Seufzer. Rasch dreht sie sich um und geht in die Küche. Dort holt sie ihr geblümtes Taschentuch hervor, trocknet Tränen und schneuzt sich. Dann faltet sie die Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet. "Danke", sagt sie am Schluß laut, "danke, lieber Gott!"

 

Die Männer erheben ihre Gläser und prosten einander zu. Sie sind sehr ernst, aber auch sehr erleichtert.

 

Peter steht erneut auf und geht hinüber zum Pastor. Auch der erhebt sich.

 

"Herr Pastor, ich danke Ihnen aus vollem Herzen. Und ich entschuldige mich für meine Hitzköpfigkeit."

 

"Danke."

 

"Es ist zum Verzweifeln mit mir. Ich hatte mir so fest vorgenommen, mich in meinen Äußerungen zurückzuhalten. Aber wenn eine Diskussion so richtig heiß wird, brennt bei mir immer wieder die Sicherung durch. Und dann sage ich auch Dinge, die ich so nicht hatte sagen wollen ... und so auch nicht hätte sagen dürfen. Nochmals: ich entschuldige mich. Es tut mir leid."

 

"Schon gut, Peter. Schon gut. Aber in der Sache, im Prinzip, wollen Sie sicher nichts zurücknehmen von dem, was Sie gesagt haben."

 

"Nein", sagt Peter, "das will ich nicht." Er sieht dem Pastor offen in die Augen. "Aber ich habe viel gelernt. Sie und Inge haben mir Seiten des Christentums vorgelebt, die ich vorher nicht kannte." Er nickt. "Seiten, mit denen ich gut leben kann. Und Seiten auch, die ich bewundere."

 

Abermals reichen die beiden Männer sich die Hand. Und dann kommt es tatsächlich zu einer Umarmung.

 

Als Inge in diesem Augenblick die Küchentür öffnet und die sich umarmenden Männer sieht, schießen ihr die Tränen in die Augen. Ganz schnell und ganz leise schließt sie die Tür wieder.

 

Gedankenverloren geht der Pastor langsam in den Teil des Wohnzimmers, in dem das Klavier steht. Vor dem Bild seiner Frau bleibt er stehen. Dann setzt er sich und bedeutet Peter, zu ihm zu kommen und auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen.

 

"Ich möchte Ihnen etwas sagen, Peter", beginnt er mit ernster Stimme. "Sie haben sich mir vorbehaltlos und ganz geöffnet. Da will ich nicht zurückstehen. Neben Kritik haben Sie Zweifel geäußert an den historischen Wurzeln meines Glaubens. Ich habe da meine eigenen Nachforschungen betrieben. Und ich sage Ihnen jetzt etwas, das ich noch keinem lebenden Menschen gesagt habe." Er schiebt die Unterlippe vor und nickt stumm vor sich hin. "Etwas, das bisher stillen Gesprächen mit meinem Gott und mit meiner verstorbenen Frau vorbehalten war."

 

Überrascht wendet sich Peter dem Pastor zu. Der hat den Blick auf das Bild seiner Frau gerichtet. Erst nach einer Weile spricht er weiter: "Ich habe die Quellen studiert, aus denen unser Wissen über die Entstehung des Christentums fließt. Vor allem unser Wissen über die Kreuzigung und die Auferstehung. Das sind zwei tragende Säulen meines Glaubens. Ich bin auf Lücken gestoßen, auf Ausschmückungen und auf Ungereimtes. Es gibt keine Berichte von Augenzeugen. Und das, was die Überlieferer geschrieben haben, widerspricht sich in so manchem. Kein Richter dürfte solchen Zeugen Glauben schenken. Ich kann nicht ausschließen, daß die historische Wahrheit anders ausgesehen hat, als es in den Schriften der Apostel zu lesen ist."

 

Peter blickt stumm auf seine Knie. Er kann gar nicht fassen, was der Pastor da sagt.

 

"Die Auferstehung Jesu", fährt der Pastor fort, "ist das Herz des Christentums. Aber wir wissen nichts darüber. Die fünf Zeugnisse der Auferstehung stammen von Paulus, Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Sie berichten über Erzählungen, die in der Urgemeinde die Runde machten. Da kursierten recht unterschiedliche Geschichten. Eine kritische Überprüfung der Texte der fünf Apostel deckt Widersprüche auf. Im übrigen wurden früher von vielen großen Männern Geschichten über deren Auferstehung erzählt. So mußte ich mir schließlich eingestehen, daß es eine Auferstehung möglicherweise gar nicht gegeben hat."

 

Peter schluckt. "Und dennoch sind Sie ein tiefgläubiger Christ."

 

"Ja."

 

"Wenn die historischen Säulen nicht tragen, worauf gründet sich dann Ihre Gläubigkeit?"

 

"Auf den Geist, der Jesus Christus, seine Jünger und seine Gemeinde erfüllte. Und der uns Gläubige noch heute erfüllt. Dieser Geist hat in den Herzen ungezählter Menschen ein riesiges Feuer entfacht. Aus diesem Feuer sind Gedanken, Gefühle und Gewißheiten gereift. Aus ihnen erwuchs Lebendiges: Ein gewaltiger Baum des Glaubens, dessen mächtige Äste und Zweige haben die Säulen umrankt. Wahrlich, das Gewachsene ist im Laufe der Zeit so stark geworden, so mächtig und auch so real, daß es der historischen Einzelheiten nicht mehr so sehr bedarf. Im Verlaufe von zwei Millennien ist hier Großartiges entstanden, etwas, das sich selber trägt."

 

"Haben Sie nie mit Inge über die Ergebnisse Ihrer Nachforschungen gesprochen?"

 

"Nein."

 

"Bitte sprechen Sie mit ihr! Ihre Einsichten werden für Inge nützlich sein. Sie werden ihr ermöglichen, ihr bedingungsloses Gottvertrauen zu relativieren und in stärkerem Maße eigene Verantwortung zu entwickeln. So könnte sie ihr Leben freier gestalten und sich selber besser schützen."

 

"Ich werde mit Inge sprechen."

 

"Danke!"

 

Peter schweigt. Und er denkt: 'Hoffentlich tut der Pastor das bald.'

 

Abschied

 

Auch heute schmeckt das Essen vorzüglich. Peter genießt Inges Kochkunst. Gelegentlich nicken die drei einander zu. Ansonsten herrscht Schweigen.

 

Nach dem Dankgebet falten sie ihre Servietten zusammen und reichen einander die Hand. Mit freundlichen Worten und einem Wangenkuß bedankt sich Peter bei der Hausfrau. Die lächelt: "Es freut mich, daß es dir geschmeckt hat."

 

Inge ist unendlich glücklich darüber, daß die beiden Männer die kritische Probe in ihrer Beziehung bestanden haben.

 

Der Pastor sieht Inge an und dann Peter. In seinen Augen leuchtet Wärme auf. Er erhebt sein Glas und sagt: "Dem Herrn sei Dank! Er hat uns beigestanden." Er wendet sich seiner Tochter zu: "Und offenbar auch deiner Freundin."

 

"Ja", sagt Inge.

 

Entspanntes Schweigen.

 

Plötzlich steht Peter auf, stellt sich hinter seinen Stuhl, legt beide Hände auf dessen Rückenlehne und räuspert sich. Er sieht den Pastor an und danach Inge. Einen Augenblick lang bleibt er stumm. Vater und Tochter wenden sich ihm zu, mit einem Ausdruck von Überraschung und mit erwartungsvollem Interesse.

 

Peter räuspert sich noch einmal. Dann beginnt er: "Sehr verehrter Herr Pastor." Er macht eine Verbeugung zum Pastor hin. Dann wendet er sich zur Seite und sagt, etwas leiser, "meine geliebte Inge." Erneut dem Pastor zugewandt, fährt er fort: "Es mag unmodern geworden sein, es mag auch nicht formgerecht sein - wie auch immer - hiermit halte ich an um die Hand Ihrer Tochter. Ich verspreche Ihnen, ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um Inge glücklich zu machen. Und ich verspreche Ihnen ebenso, daß ich alles tun will, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wir drei gut miteinander auskommen können," abermals räuspert er sich, "daß wir in Harmonie und in Freundschaft miteinander leben können."

 

Der Pastor steht auf, geht zu Peter hinüber und umarmt ihn. Er ist tief bewegt. Ohnehin hatte ihn das Streitgespräch stärker erschüttert, als er sich hatte anmerken lassen. So manches von dem, was der Peter ihm da so ungestüm vor die Füße geschleudert hatte, zerrte nicht zum erstenmal an seinem Herzen. Seine Augen werden feucht. "Eigentlich", sagt er mit trockenem Mund und schwerer Zunge, "eigentlich müßte ich jetzt etwas sagen, eine kleine Rede halten ... Aber ich kann das jetzt nicht." Er unterdrückt Schluchzen. "Ich bin sehr glücklich." Er atmet tief und versucht, Tränen zurückzuhalten. Doch das gelingt ihm nicht ganz. Am äußeren Rand der Augenlider glitzert es: Tränen von der Art, wie sie verstohlen aus den Tiefen des Herzens hochzuquellen scheinen. Er schluckt. "Ich ... ich bin sehr dankbar ... für einen solchen Schwiegersohn."

 

"Oh, Peter, mein geliebter Peter!" Inge fliegt in ausgebreitete Arme. "Ich will dir eine gute Frau sein!!"

 

Am nächsten Morgen steht Inge in aller Frühe auf und fährt zu ihrer Freundin. Gott sei Dank geht es ihr besser. Das Schlimmste scheint überwunden zu sein. So fährt sie, so schnell ihr das möglich ist, zurück und bereitet das Frühstück zu.

 

Inge, Peter und Pastor sind sehr glücklich über die schwer errungene Voraussetzung für ein Leben zu dritt. Am Frühstückstisch umarmen sie einander und sprechen händehaltend gemeinsam das Morgengebet. Für Peter ist dies der schönste Tag in seinem Leben. Er hat eine wundervolle Frau gefunden. Er hat wieder eine Familie!

 

Beim Frühstück wird heute mehr geredet als sonst. Hin und her fliegen die Worte. Die drei sprechen über Peters bevorstehende Reise nach Amerika. Vor kurzem hatte er eine ehrenvolle Einladung erhalten. An der Universität von Kalifornien in Los Angeles wird er einen Vortrag halten und anschließend drei Wochen in einem dortigen Institut mit amerikanischen Kollegen wissenschaftliche Experimente durchführen. Sobald er zurück ist, soll die Hochzeit stattfinden. Darüber machen sie jetzt voll aufgeregter Vorfreude ihre Pläne.

 

Schließlich erheben sich die drei und sprechen das Dankgebet.

 

Der Pastor nimmt Abschied. "Ich muß zu einer schwerkranken Frau. Sie bedarf meines Zuspruchs. Auf Wiedersehen, mein lieber Peter! Alles, alles Gute!" Er umarmt seinen Schwiegersohn mit großer Herzlichkeit. "Komm gesund zurück! Ich freue mich auf das Wiedersehen mit dir."

 

"Auf Wiedersehen! Drei Wochen, das ist keine lange Zeit. Sie werden wie im Flug vergehen."

 

Peter fährt zurück in seine Wohnung und packt die Koffer. Um 17:45 Uhr fliegt seine Maschine. Zuerst geht es nach London, dann nach Los Angeles. Inge wird ihn um 15:00 Uhr abholen.

 

Auf der Fahrt zum Flugplatz geraten Inge und Peter in einen Stau. Langsam und mit vielen Stops schleicht die Wagenkolonne dahin.

 

"Hoffentlich kommen wir nicht zu spät!", ruft Inge und trommelt mit ungeduldigen Fingern auf dem Lenkrad herum. "Ich mache mir Sorgen!"

 

Auch Peter wird nervös. Aber er sagt: "Überlassen wir das mal dem Schicksal. Es gibt Leute, die sind zu spät zum Flugplatz gekommen und verdanken diesem Umstand ihr Leben."

 

Der Stau löst sich auf. Nun geht es zügig voran.

 

Am Flugplatz findet Inge sofort einen Parkplatz. "Glück muß man haben!", strahlt sie und springt aus dem Wagen. Das Abfertigungspersonal treibt winkend zur Eile. So schnell das die Koffer zulassen, eilen sie zum Schalter.

 

Nur wenig später stehen sie vor der Flugscheinkontrolle. Mit laut hallender Aufdringlichkeit werden die letzten Passagiere aufgefordert, sich an Bord zu begeben.

 

Plötzlich erfaßt Inge Angst. Tränen überfluten die Augen. Ungestüm schlingt sie die Arme um Peters Hals. Mit bebender Stimme flüstert sie: "Ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich kann es gar nicht erwarten, bis du zurück bist. Bis wir Mann und Frau sind. Bis wir auf ewig vereint sind."

 

Große Liebe will Ewigkeit. Sie will nichts wissen von Anfang, nichts von Ende. Und doch ist ihr das Ende immer nah.

 

Inge und Peter umarmen einander ganz, ganz fest, so als wollten sie sich nie wieder loslassen. Sie küssen sich mit großer Inbrunst. Dann reißt Peter sich los, greift nach seiner Tasche und läuft zur Kontrolle. Rasch zeigt er Ausweis und Flugschein vor. Ein kurzes Winken. Und dann rennt er davon.

 

Ein Abschied auf ewig.