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Textprobe 3, 'Suchen Im Park': Götter

Gestaltungsgeschehen

 

Künstler und Wissenschaftler erheben sich und beginnen einen neuen Rundgang um den See.

 

"Sie haben", sagt der Maler nach einer ganzen Weile, "immer wieder von Ausreifungsplan und Ausreifungszwang gesprochen. Was meinen Sie damit?"

 

Als der Physiker nicht antwortet fragt der Maler: "Sind das Manifestationen der Macht Ihres Gottes?"

 

Der Physiker schweigt.

 

"Was ist der Kern der Macht Gottes?"

 

Der Physiker sieht sich um als suche er etwas. Sein Gesichtsausdruck läßt darauf schließen, daß er aus tiefen Gedanken zurückkehrt. Er räuspert sich. "Zweierlei", sagt er nun mit fester Stimme: "Die Gesetze, nach denen das Entfalten und Zusammenstürzen des Universums erfolgt - vorbestimmt im Ganzen aber immer wieder neu gestaltet im Detail. Und die Zeit, die unendliche, unwiderbringlich still dahinziehende Zeit, in der die Schöpfung ausreift, sich vollendet und vergeht - in ewigem Wechsel."

 

"Was genau bedeutet ausreifen?"

 

"Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Aber ich habe da so meine Vorstellungen."

 

"Ich bin gespannt! Wie ein Flitzbogen!!"

 

"Das ist ein kompliziertes Thema. Haben Sie Zeit und Geduld?"

 

"Nur los! Für so was hab ich immer Zeit. Mit der Geduld ist das schon eher ein Problem." Ein gewitztes, wißbegieriges Grinsen zieht die Wulstlippen in die Breite. "Aber ich werde mir Mühe geben."

 

Die beiden setzen sich auf eine Bank am Ostufer des Sees. Auf dieser Bank waren dem Physiker immer wieder besondere Vorstellungen zugeschwebt. Und hier haben manche davon, so meint er jedenfalls, erst in der letzten Nacht eine faszinierende Bestätigung erfahren - in Form von außergewöhnlichen Erscheinungen. Die Bank ist ein Stück vom Wegrand zurückgesetzt worden, weiter als die anderen. Zur Rechten, zur Linken und in ihrem Rücken ist sie von dicht stehenden Büschen umgeben. Man sitzt hier wie in einem Erker. Hier kann man völlig in sich versinken, tief in sich hineinsehen. Ein tiefer Blick verlangt nach tiefer Entrücktheit. Nur in einer sich ganz dem innersten Wesen des Universums öffnenden Einsamkeit kann dem Menschen die Gnade besonderer Einsichten zuteil werden.

 

Der Physiker nimmt die Brille ab, putzt sie, hält sie gegen den Himmel, prüft, ob alles ganz sauber ist. Putzt sie erneut und setzt sie nun zurück auf die Nase. Abwesend schiebt er sie hoch, exakt auf ihren Platz. "Schaffen Sie Raum in Ihrem Kopf", sagt er, "bereiten Sie sich vor auf etwas Neues."

 

Ungeduldig nickt der Maler.

 

"Auf Ihre Bitte hin habe ich ein Bild entworfen darüber, wie die Wissenschaft das Universum sieht. Darauf baue ich jetzt auf. Aber das, was ich Ihnen heute darlege, ist nicht das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung, sondern der Versuch einer Synthese von wissenschaftlichem Erkennen und intuitivem Erahnen."

 

"Paßt denn das zusammen?"

 

"Das ist die einzige Möglichkeit, über den Zaun zu spähen, den die Schöpfung um uns zieht - jedenfalls ein winziges Stückchen."

 

Den Maler überrascht diese Akzentverschiebung in der Diskussion. "Sie verwirren mich", flüstert er. Ohne daß ihm das bewußt wird, rückt die Hand den Hut zurecht. 'Dieser Naturwissenschaftler!', denkt er, 'immer mehr Rätsel gibt der mir auf. Immer mehr entwurzelt der mich.' Verloren fährt der Handrücken über den Mund. Wie die erste Gebärde, so gehört auch die zweite nicht zum Repertoire seiner unbewußten Bewegungen. Dunkle Erinnerungen huschen umher im Maler. Das Echo nächtlicher Freundschaften hallt durch den Leib.

 

"Schon meine erste Behauptung wird Sie überraschen: Alle Materie, nichts als gefrorene Energie, ist potentiell lebendig und potentiell intelligent. Energie und Materie, zwei Erscheinungsformen ein und derselben Sache, besitzen unvorstellbar große Möglichkeiten der Organisation und Ausreifung. Die Phänomene, die eine Ausreifung dieser Möglichkeiten über Milliarden von Jahren steuern, die fasse ich zusammen in dem Begriff 'Gestaltungsgeschehen'."

 

"Diesen Begriff hatten Sie bereits erwähnt. Was ist das?"

 

"Ein ewiges Urprinzip."

 

"Woher haben Sie dieses Wissen?"

 

"Das ist kein Wissen. Das ist eine Hypothese. Das von mir postulierte Gestaltungsgeschehen ist universumweit wirksam."

 

"Was bewirkt dieses Geschehen für mich?"

 

"Am Anfang gibt das Gestaltungsgeschehen dem Universum - ebenso wie einem Menschen - nur die Erstausstattung mit, nur den Grundbauplan, die Grundfunktionen. Die Ausstattung mit Speziellem erfolgt erst im Laufe der Ausreifung."

 

"Wodurch?"

 

"Durch Schlüsselereignisse. Deren Wirksamkeit erreicht ihr Maximum während bestimmter Entwicklungszustände. Da gibt es Fenster, wie beim Start einer Weltraumrakete."

 

"Ich bin ohne derartige Fenster aufgewachsen."

 

"Wie bei anderen Menschen, so wurden auch in Ihrem Körper und in Ihrem Hirn bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten vor allem in Zeitfenstern festgelegt."

 

"Bitte erläutern Sie mir das."

 

"In der frühen Individualentwicklung prägen Reize - Bilder, Sprache, Musik, Lernen, Zwischenmenschliches - Verhalten, Wissen und Können eines Menschen."

 

"Wie?"

 

"Die Reize stimulieren Nervenzellen. Die produzieren daraufhin Transmittersubstanzen. Und diese wiederum induzieren Verbindungen und Schaltstellen zwischen Nervenzellen. Mit anderen Worten: Sie bauen die Feinvernetzung des Nervensystems auf. So reifen, auf der Basis der Grundausstattung und des Ererbten, die Besonderheiten einer Individualität. Reize aktivieren und dirigieren, chemische Substanzen locken und verlegen, Nervenwachstum verbindet und verschaltet. In seiner Essenz kann das Ergebnis derartiger Prägungsvorgänge über ein Menschenleben erhalten bleiben."

 

Der Physiker denkt nach. Dann sagt er: "Das Gestaltungsgeschehen ist unzerstörbar. Aus ihm heraus programmiert sich nach jeder Schöpfungsexplosion ein neues Universum. Das Gestaltungsgeschehen gebiert, evolviert, kontrolliert und liquidiert alles."

 

"Langsam", ruft der Maler, "langsam! Ich komme nicht mit! Wie paßt denn das in unsere Welt?"

 

"Wir sehen nur einen kleinen Teil Welt! Alles, was wir sehen, was wir erleben, alles Tote und Lebendige, das sind nur die für uns wahrnehmbaren materialisierten Nadelspitzen der Schöpfung. Und selbst davon sehen wir nur den Widerschein."

 

"Was soll denn das nun wieder heißen?"

 

"Das ist ein bißchen so wie mit dem Licht. Auch das Licht können wir nicht sehen. Nur dessen Widerschein von Gegenständen, auf die es trifft. Was die Welt wirklich ausmacht, ihre Essenz, ihr Wesen - das ist mit unseren Sinnesorganen nicht erfaßbar und mit unseren Apparaten nicht meßbar."

 

"Was ist die Essenz?"

 

"Das Gestaltungsgeschehen. Es läßt alles Materielle aus dem Nichts, aus Energie, hervorgehen und wieder darin verschwinden. In einem unvorstellbar gewaltigen kosmischen Theaterspiel zwingt es alles dazu, in Milliarden von Jahren auszureifen. Unaufhaltsam drängt es vorwärts, immer nur vorwärts. Und schließlich läßt es alles so Entstandene wieder vergehen, wieder zu Energie werden - in ewigem Wechsel ein ewiger Kreis."

 

"Immer da, aber nie geworden?

 

Der Physiker nickt.

 

"Was, zum Teufel, bedeutet das?"

 

"Das ist die Geschichte vom Sein und vom Nichtsein."

 

"Was ist Nichtsein, was Sein? Und wie paßt die Schöpfung da rein?"

 

"Nichtsein ist der Kern des Gestaltungsgeschehens. Dessen Wirkung ist das Werden. So formt das Gestaltungsgeschehen das ausreifende Sein. Das Formen ist der Schöpfungsakt, sein Ergebnis, die Schöpfung."

 

"Dann ist das Gestaltungsgeschehen Gott?"

 

"Es ist sein Wille."

 

Der Maler schluckt. "Die Schöpfung", fragt er erregt, "ist sie ewig?"

 

"Nein. Das Gestaltungsgeschehen ist ewig. Die Schöpfung ist etwas sich immer wieder Erneuerndes."

 

"Erklären!", schreit der Maler außer sich. "Erklären!! Wo ist der Motor? Welche Kraft treibt die Ausreifung?"

 

"Eine besondere Form von Energie. Die Physik kennt nur 'Arbeitsenergien': Potentielle Energie, Bewegungsenergie, Wärmeenergie, Gravitationsenergie. Meiner Ansicht nach ist der Motor eine Urenergie, eine Kraft, die das geordnete Werden, Ausreifen, Vergehen und Wiederwerden des Universums überhaupt erst möglich macht. Eine kosmische Energie. Die Energie des unermeßlichen Reiches der immateriellen Erscheinungen."

 

"Teufel auch, was ist das für eine Energie?"

 

"Ich nenne sie Organisationsenergie."

 

"Sie erschlagen mich mit Ihren Begriffen! Und Sie verwirren mich mit Ihren Vorstellungen! Was ist das, Organisationsenergie?"

 

"Organisationsenergie enthält die Uridee, das Urprogramm des Universums. Sie ist vor der Materie da. Sie ist die Mutter aller Strukturen und aller Funktionen. Sie erfüllt und durchströmt den gesamten Kosmos, in örtlich unterschiedlicher Stärke und Wirksamkeit."

 

"Was bedeutet das für mich?"

 

"Organisationsenergie ist überall. Sie liefert Antrieb und Plan für alles. Das reicht von den Galaxien, bis hin zu den einzelnen Himmelskörpern, von den Lebenssystemen, bis hin zu den einzelnen Lebensformen - also auch zu Ihnen, zu Ihrer geistigen und körperlichen Einmaligkeit."

 

"Zu viel 'überall'! Zu viel 'alles'!"

 

"Überall herrschen die gleichen Kräfte, alles unterliegt den gleichen Gesetzen." Der Physiker schweigt einen Augenblick. Dann sagt er: "Ohne Organisationsenergie kann keine Ordnung entstehen, sich erhalten und fortentwickeln. Um die in ihr schlummernden Möglichkeiten zu realisieren, benötigt sie unvorstellbar viel Zeit und über lange Zeitspannen berechenbare physikalische und chemische Bedingungen."

 

Chaos

 

"Sie tun so, als habe alles seine gute Ordnung. Andere Physiker aber sehen Unordnung, Chaos."

 

"Was meinen die damit?"

 

"Unberechenbarkeit, Zufall, Unvorhersagbarkeit - im Grunde also gesetzloses Verhalten."

 

"Gesetzloses kann nur erkennen, wer um die Gesetze weiß."

 

"Und?"

 

"Die Menschen wissen zu wenig über die Gesetze."

 

Der Maler wiegt den Kopf. Er überlegt. Dann sagt er: "Gibt es Übergänge zwischen Ordnung und Unordnung?"

 

"Im Universum wird ständig Ordnung aus Unordnung und Unordnung aus Ordnung."

 

"Ihre Kollegen erwecken den Eindruck, als hätten sie das Phänomen des Chaos gerade eben entdeckt."

 

"Physiker haben bisher vor allem in Zuständen der Ordnung gedacht und gerechnet. Für sie ist die Begegnung mit dem Chaos daher eine aufregende Sache. Biologen haben schon lange mit dem Chaos gelebt. Für sie gehören Ordnung und Unordnung zusammen wie Leben und Tod."

 

"Was ist Chaos für Sie?"

 

"Ein Teil der Ordnung. Sozusagen programmierte Unordnung. Für mich ist Chaos ein Motor für die Ausreifung der Materie, der toten wie der lebendigen."

 

"Wo ist Unordnung ein Teil der Ordnung?"

 

"Zum Beispiel bei der Entstehung des Lebendigen."

 

"Dann ist Leben Ordnung und Tod Unordnung?"

 

"Das wäre zu unscharf und auch nur zum Teil richtig. Es gibt Unordnung im Lebenden, zum Beispiel in der Evolution. Und es gibt Ordnung im Toten, zum Beispiel in Gesetzmäßigkeiten der Materiestruktur."

 

"Ist eine Unterscheidung zwischen Ordnung und Unordnung im Bereich des Geistigen möglich?"

 

"Auch da gibt es Übergänge."

 

"Wie meinen Sie das?"

 

"Jeder Satz, den ich soeben gesprochen habe, war das Ergebnis eines Übergangs von Unordnung zu Ordnung. Ideen-Nebel und Gedankensplitter wurden geordnet zu Wörtern und Aussagen."

 

"Freilich! Nicht von ungefähr sagen wir: 'ich muß erstmal meine Gedanken ordnen.'"

 

"So ist es."

 

"Und was folgern Sie daraus?"

 

"Nicht, was ist Ordnung, ist die Frage, nicht, was ist Unordnung."

 

"Sondern?"

 

"Welche Kraft ist hier am Werk? Wie schafft sie Ordnung, wie Unordnung?"

 

"Und welche Kraft ist da am Werk?"

 

"Die Kraft, die ich als Organisationsenergie bezeichne."

 

"Und da wären wir wieder am Ausgangspunkt."

 

"Ja. Ich vermute, daß es eine materielose Grundkraft gibt. Ein Urgeschehen, das alles und jedes hervorbringt, also auch alles für uns Erlebbare. Ein Urgeschehen, das alles entwickelt, steuert und wieder vergehen läßt."

 

"Und welche Bedeutung könnte dabei dem Chaos zukommen?"

 

"In der Welt im Kleinen wie in der Welt im Großen vermögen winzige Ursachen riesige Wirkungen zu erzeugen, unvorhersagbar im einzelnen, aber vorbestimmt im ganzen. Hier könnte 'geplante' Unordnung eine innovative Wirkungsdynamik entfalten. Aber ich gehe davon aus, daß es Chaos außerhalb der Naturgesetze nicht gibt, nicht geben kann. Im Chaos würfelt die Ordnung um neue Möglichkeiten, sich zu manifestieren."

 

"Welche Rolle spielt dabei die Zeit?"

 

"In unendlich kleinen und in unendlichen großen Zeitspannen verschwimmen die Begriffe. Auch so kann Ordnung zu Unordnung und Unordnung zu Ordnung werden."

 

"Wo bleibt in Ihrem Weltverständnis der Ausgleich, wo Ruhe, wo Entspannung?"

 

"Es gibt nichts Ausgeglichenes, nichts Ruhendes, nichts Spannungsfreies. Das erste Grundgesetz des Universums heißt ewige Bewegung, ewiger Auf- und Abbau von Ungleichgewichten, ewige Spannung. Hier steht die Wiege von allem."

 

"Beispiele!"

 

"Aufbau negativer Gravitationsenergie als Folge des Urknalls, deren Abbau beim Zusammenstürzen des Universums und deren abermaliger Aufbau beim nachfolgenden Knall. Entstehung von Materie aus Energie und deren Rückverwandlung in Energie. Universumweite Abstoßung und Anziehung. Schwingungsberg und Schwingungstal. Schaffung und Vernichtung von Komplexem. Billiardenfaches Borgen und Rückzahlen von Energie. Eines bedingt das andere. In stetem Wandel. Daher gibt es auch keinen Anfang und kein Ende. Alles ist in ständigem Fluß. In ewigem Reigen ein ewiger Ring."

 

Gedankentheater

 

"Ihr Gestaltungsgeschehen, Ihre Organisationsenergie", quillt es aus dem Maler hervor, "beinhalten sie auch menschliche Schöpfungen? Wenn ich male, fließen mir da Ihrer Ansicht nach auch Kräfte zu, die auf die Organisationsenergie zurückgehen?"

 

"Meiner Ansicht nach, ja."

 

"Wie soll das funktionieren?"

 

"Wie ich schon sagte, sind wir letztlich nichts anderes als winzige Funken des gewaltigen Feuers, das sich vor Milliarden von Jahren entzündet hat. Nichts anderes als zeitlich und räumlich begrenzte Wirbel von in bestimmter Weise angeordneten Teilchen."

 

"Wie kann daraus Ganzheit, wie eine neue Qualität entstehen?"

 

"Die einzelnen Teilchen beeinflussen sich gegenseitig. Und sie entwickeln kollektive Verhaltensweisen, welche ihrerseits Eigenschaften der Einzelteilchen verändern. So kann das Zusammengesetzte innere Identität und Zusammenhalt gewinnen. Und so vermag es, immer wieder neue Eigenschaften, neue Qualitäten zu entwickeln."

 

"Was hat das mit mir zu tun?"

 

"Wie bei anderen Menschen, so wird auch bei Ihnen ein Teil des Kreisens und Wirbelns in Gedanken umgewandelt, in Gefühle, Ideen, Verlangen, Triebe, Ängste."

 

Der Maler ist äußerst erregt. Sein ganzes Wesen rebelliert: 'Das geht zu weit!', schreit eine Stimme in ihm. Und dann denkt er: 'Mein Empfinden ist zu eng für die Welt dieses Wissenschaftlers. Dessen visionäres Eindringen in universale Zusammenhänge kann ich nicht nachvollziehen. Ich bin zu gefühlsorientiert, um Tod und Leben zusammenzudenken, um in Stein und Fleisch das Gleiche zu sehen.'

 

Erst gestern nacht hatte er verloren vor leerer Leinwand gehockt. Wieder wollte er die Essenz dessen, was für ihn der Engel ist, in Ölfarben bannen. Vergeblich! Da hatte er den Kopf gesenkt und schließlich wie im Traum auf die Leinwand gepinselt:

 

Ich gehe und gehe

Ich weiß nicht wohin

Ich suche und suche

Ich weiß nicht warum

 

Licht am Weg, Höhe, Erfüllung

Dunkel im Suchen, Tiefe, Verzweiflung

Wo bin ich?

Ich weiß nicht wo

Wer bin ich?

Ich weiß nicht wer

Und dennoch: Ich bin

Und weiter: Ich muß

 

Jetzt zerren dünne Finger am weißen Hut. Unwirsch wendet sich der Künstler dem Wissenschaftler zu: "Sie verlassen die Pfade der Realität. Ich sehe diese Dinge anders! Ganz anders!!"

 

Doch der Physiker reitet ihm davon: "Das Schwingen, Wirbeln und Kreisen, aus dem unsere Gedanken und Empfindungen sich formen, hat sozusagen ein Innen und ein Außen. Innen wohnen die speziellen Kräfte, die unsere Einmaligkeit als Teil des Ganzen ausmachen, außen die allgemeinen. Genau genommen gibt es natürlich kein separates Innen und Außen, aber diese Vorstellung erleichtert das Verständnis dessen, was ich ausdrücken möchte. Innen sind unsere individuellen Eigenarten, Fähigkeiten und Erfahrungen, unser Gedächtnis und unser Vermögen, Gespeichertes und Erfahrenes selektiv vorübergehend zu aktivieren und auf die Bühne des Bewußtseins zu rufen, es also stückchenweise zu erleben und darüber nachzudenken. Außen ist das uns tragende Lebenssytem, die Natur, das Universum. Das Theater unserer Gedanken und Gefühle empfängt Anregungen vom Innen und vom Außen."

 

In hilfloser Verwirrtheit ruft der Maler: "Und aus diesem Anregungssalat soll Vernünftiges entstehen können?"

 

"Ich sehe das nicht als Salat."

 

"Wie kann eins zum andern finden?"

 

"Durch Abstimmung der Wellenlängen."

 

"Wie meinen Sie das?"

 

"Ein bestimmter Mensch kann immer nur das empfangen und erleben, was seiner Empfangsausstattung gemäß ist."

 

"Das ist mir aber ein sonderbares Theaterspiel! - Was ist da meine Rolle?"

 

"Die eines Zukuckers."

 

"A ... aber", stottert der Maler, "a ... aber ..."

 

"Sind wir nicht alle Zukucker?"

 

"W ... wie ... ?"

 

"Und Darsteller. Und manchmal auch Regisseur."

 

"Regisseur? Ich denke wir sind Teil."

 

"Teil im Weltgeschehen. Regisseur im Theater unserer Gedanken. Wie kein anderes Wesen auf der Erde kann der Mensch versuchen, in das Theaterspiel seiner Gedanken und Vorstellungen einzugreifen und so Akzente zu setzen. Wie kein anderes Wesen kann er auf der Bühne seines Bewußtseins verschiedene Gegebenheiten und Möglichkeiten gedanklich durchspielen. Und er kann danach streben, die sich daraus ergebenden Konsequenzen abzuschätzen und zu berücksichtigen."

 

"Ein Gedankentheater!"

 

"Ja. Und mitten auf der Bühne dieses Gedankentheaters steht die Wiege der Menschlichkeit. Hier wurde die Menschenwelt geboren."

 

Wieder ist der Künstler aufs höchste erregt. Wieder ist er ganz und gar im Bann der Ideen des Wissenschaftlers: "Sie haben von Außenbotschaften gesprochen, die unser Gedankentheater beeinflussen."

 

Der Physiker nickt.

 

"Wie sollen uns Botschaften von außen erreichen?"

 

"Wenn ich einen Gedanken, eine Idee, auf die Bühne meines Bewußtseins stelle, wenn ich mich darauf konzentriere, wenn die Kulisse die richtige ist und wenn die Stimmung paßt, dann kommt Verwandtes dazu. Nicht selten etwas, das nicht zu meinem Erlebnisschatz, zu meinem Gedächtnis, gehört: Darsteller und Botschaften also, die von außen kommen. Sie agieren, verändern und gestalten. Ich hocke dann in einer dunklen Ecke meines Bewußtseins und sehe und höre dem Geschehen zu, stumm, gebannt, fasziniert."

 

"Was verstehen Sie unter Bewußtsein?"

 

"Zunächst einmal das, was wir in einem bestimmten Augenblick gewahr werden. Sodann aber auch das, was wir davon gedanklich bewältigen, also begreifen können. Und schließlich das, was wir von dem Begriffenen in Worte zu fassen vermögen. Es gibt also verschiedene Ebenen von Bewußtsein, sozusagen verschiedene Scharfeinstellungen. In seiner höchsten Form ist Bewußtsein die letzte Kontrollinstanz des Hirns. Hier gewahrt und bewertet es einen Teil seiner eigenen Arbeit."

 

"Ja", sagt der Maler nach einigem Nachdenken, "ja, das ist eine faszinierende Sache."

 

"Welche Sache meinen Sie jetzt?"

 

"Ich meine diesen Übergang von zunächst ganz geheimen Gedanken zum gesprochenen oder geschriebenen Wort. Dieses Hinaustreten von Privatem aus der Welt des Eigenen, Internen in die Welt des Fremden, Öffentlichen - in die Welt der Allgemeinheit."

 

"Das empfinde ich ganz ähnlich. Auf einmal steht man nackt da. Ist von jedermann zu besichtigen. Ist Gegenstand geworden von Diskussionen, Beurteilungen, Verurteilungen. Das ursprünglich Eigene lebt da irgendwo weiter, aber losgelöst von mir, Mißverständnissen preisgegeben, nicht länger veränderbar, nicht länger rücknehmbar, nicht mehr reprivatisierbar."

 

Der Maler nickt. "Das Gedankentheater hat auf einmal Zuschauer."

 

"Genauso ist es."

 

"Gibt es Bewußtwerden auch bei Tieren?"

 

"Meiner Ansicht nach ja."

 

"Welche Funktion hat es dort?"

 

"Es dient der Einordnung des Individuums in äußere Systembezogenheiten. Bewußtwerden ermöglicht eine schnelle Veränderung und Anpassung von Verhaltensstrategien. Das ist besonders wichtig bei Lebensformen, die immer wieder rasch neue Probleme und neue Situationen meistern müssen. Wollte die Natur für all das erblich fixierte, also angeborene Reaktionsbahnen bereithalten, so müßte das zu Überbelastungen und zu evolutiven Erstarrungen führen."

 

"Bewußtwerden ist nicht immer das Resultat einer eigenen geistigen Leistung?"

 

"Nein. Ein Schmerz, ein aus den Tiefen des Leibes aufsteigendes Bedürfnis, ein Trieb, können so stark werden, daß sie von sich aus die Grenze zur Bewußtwerdung überschreiten, ja, daß sie das ganze Bewußtsein ausfüllen. Der Geist muß dabei nicht beteiligt sein."

 

"Glauben Sie, daß das Bewußtsein eine materielle Grundlage hat? Die Dualisten behaupten ja, Geist und Materie seien etwas voneinander Verschiedenes, Unabhängiges. Aber moderne Neurologen hoffen, dem Nachweis nahe zu sein, daß Geist und Bewußtsein eine materielle Basis haben."

 

"Eine materielle Basis, ja, aber das bringt uns nicht weiter. Am Anfang von allem, auch des Bewußtseins und des Geistes, steht das Nichtmaterielle. Die Materie ist nicht der Ausgangspunkt, sondern die Konsequenz der hier wirksamen Kräfte."

 

Der Physiker schweigt eine Weile. Dann sagt er: "Kräfte, die von außen kommen, wirken von überall her auf die Erde ein. Ohne sie könnte die Erde nicht ihre Position im Universum einnehmen und nicht geregelt ihre Bewegungen ausführen. Alles Leben auf der Erde ist in Wirkungsfeldern von Kräften entstanden, die von außen kommen. Unter dem Einfluß von Außenkräften ist es so geworden, wie wir es heute vorfinden. Und auch jetzt noch, jeden Tag, wird das Leben auf der Erde von Außenkräften beeinflußt und geformt."

 

"Was sind das für Kräfte?"

 

"Es sind universumweit wirkende Kräfte: Elektromagnetische Phänomene. Strahlung, Energie- und Materieströme, materielle und immaterielle Wellen, Gravitation, Magnetfelder. Das Leben auf der Erde bedarf dieser Kräfte. Sie liefern Energie, Botschaften, Direktiven. Sie beeinflussen Lebensvorgänge, Verhaltensweisen, Wanderungen und Fortpflanzungsrhythmen."

 

"Wie können diese Kräfte auf uns einwirken?"

 

"Unsere Übergangszone von außen nach innen, die Haut, kann wie eine Antenne wirken."

 

"Uups! Ich habe meine Haut noch niemals als Antenne empfunden!"

 

"Die Haut ist unser größtes Organ. Während der Individualentwicklung entsteht sie aus dem gleichen Keimblatt, aus dem auch Nerven und Sinnesorgane entstehen. Haut, Hirn und Sinnesorgane sind verwandte Strukturen. Viele einfach konstruierte Organismen sehen und hören mit ihrer Haut. Diese Fähigkeiten sind beim Menschen verkümmert. Aber sie sind da."

 

"Ich sehe mit den Augen! Ich höre mit den Ohren!"

 

"Beides Hautverwandte."

 

"Weiter!"

 

"Von außen, also auch aus dem Universum kommende Informationen können über die Haut Kontakt mit dem Hirn aufnehmen."

 

"Zur Hölle auch! Wie soll das funktionieren?"

 

"Sie haben eben gesagt, daß sie die Welt mit ihren Augen erleben."

 

"Ja."

 

"Was passiert da?"

 

"Ich sehe."

 

"Und wie funktioniert das?"

 

Als der Maler nicht sogleich antwortet, sagt der Physiker: "Strahlung von außen - Licht von Sonne, Mond, Sternen, Lampen - trifft auf einen Gegenstand, sagen wir mal auf ein hübsches blondes Mädchen."

 

'Engel!', durchzuckt es den Maler. 'Engel!!'

 

"Das Mädchen reflektiert die Strahlung. Ein Teil der reflektierten Strahlung trifft auf die Licht perzipierenden Teile Ihres Auges. Von da dringt die empfangene Information ins Hirn. Dort entsteht ein Bild von dem Mädchen - ein Bild, dessen Eigenart letztlich auch von Ihrer Eigenart abhängt, von Ihrer Erfahrungswelt, ja von Ihrer Stimmungslage."

 

'Mein Gott!', denkt der Maler. 'Mein Gott!!' Er zittert. 'Gott sei mir Sünder gnädig!!'

 

"Ich vermute nun, daß bei sensiblen Menschen vielerlei Außenbotschaften über die Haut ins Unterbewußtsein gelangen, dort reifen und ins Bewußtsein dringen. Daß sie nicht selten überraschend anmutende Einsichten, Erkenntnisse und Ängste konstellieren, die den Eindruck erwecken, sie seien in uns geboren."

 

Der Maler ist völlig in sich zuammengesunken.

 

Ballons

 

"So wie ich das sehe", fährt der Physiker fort, "existieren alle großen Ideen, Gedanken und Empfindungen in ihrer Essenz bereits vor uns, außerhalb von uns - als Teil des universumweiten Gestaltungsgeschehens. Wie zarte Ballons schweben ihre Rohformen aus dunklen Nebelwolken in die Tageshelle unseres Bewußtseins. Wie Schmerzen kommen sie zu uns - wie Schmerzen, die lange vorher da waren, die uns aber erst wahrnehmbar, erst bewußt werden, wenn sie eine unsichtbare Intensitätsgrenze überschreiten." Der Physiker schiebt die Brille hoch und blickt kopfdrehend weit über den See, als suchte er dort etwas. Kaum vernehmbar sagt er: "Und unsere intensivsten Gedanken und Gefühle, sie können auch in sonderbarer Weise aus uns hinauswirken."

 

Scheinbar abwesend, tatsächlich aber ganz konzentriert in sich hineinsehend, sagt der Physiker: "In mir ist die Vorstellung gereift, daß die Urformen emotionaler Energien, geistiger Kräfte und Ideen ewig da waren und ewig da sein werden. Alles, was die Menschen je an großen Gedanken, Kompositionen, Bildern, Schriftwerken oder Erfindungen hervorgebracht haben, alles Bedeutende, das sie je empfunden und je gedacht haben, ja, alles, was sie überhaupt empfinden und denken können - all das ist in seiner Essenz bereits im Gestaltungsgeschehen enthalten und vorweggenommen."

 

Der Maler macht einen Versuch, zu protestieren. Aber sein Gefährte nimmt das gar nicht wahr.

 

"Selbst unsere größten Philosophen, Künstler und Wissenschaftler, sie haben niemals etwas wirklich noch nie Dagewesenes empfunden oder gedacht. Sie haben niemals etwas erfunden. Sie haben immer nur etwas gefunden oder nachempfunden, etwas im Gestaltungsgeschehen bereits Vorhandenes, etwas, das im Weltprogramm seit ewigen Zeiten existiert und ewig existieren wird."

 

"Schaun Sie mal, das ist doch ..." Der Maler schüttelt verzweifelt den Kopf. "Wo bleiben denn da die Einzelleistungen großer Künstler, Erfinder und Wissenschaftler? Sie haben die größten Kulturleistungen der Menschheit hervorgebracht! Keinem Menschen ist jemals eine Ganzheitsahnung vom Wirken und Wollen der Natur zugeschwebt. Sonst hätte sich die Menschheit sicherlich anders entwickelt und anders verhalten."

 

"Ich habe nicht von großen, neuerkannten Zusammenhängen gesprochen, sondern von Denkanstößen, von Intuitionen, von der Essenz großer Gefühle, Erfindungen und Einsichten."

 

"Weiter!"

 

"Wer dazu fähig ist, sich als ein Teil des Universums zu begreifen, wer sich dem Außen ganz zu öffnen vermag, der kann Botschaften empfangen und Anregungen, die sein Weltverständnis verändern. Der Wesensgehalt des Empfangenen muß durch den Verstand erfaßt und formuliert werden. So kann das Empfangene durch Nachdenken und Erörterungen zu neuen Erfahrungen und Einsichten reifen."

 

"Wenn es stimmen würde, daß dem Menschen wichtige Botschaften aus dem Gestaltungsgeschehen zuschweben, wo liegt der Übertragungsfehler?"

 

"Wie meinen Sie das?"

 

"Warum sehen wir dann nur einen kleinen Teil der Welt? Warum nicht die ganze Welt?"

 

"Der Mensch kann nur einen sehr kleinen Teil der Außenbotschaften wahrnehmen und selbst dieser Teil wird abgewandelt durch die spezifische Art, in der wir das Empfangene auswerten."

 

"Auch hier stoßen wir also wieder auf Ihr Restriktionsgesetz."

 

"So ist es."

 

"Und was ist mit einem kreativen Genie?"

 

"Ein Genie ist ein besonders sensibler, phantasievoller und intelligenter Empfänger, Verarbeiter, Ausdeuter und Wiedergeber von in der Natur Vorgegebenem. Diese meine Vorstellung erniedrigt einen genialen Menschen zu einer Art Reflektor, aber sie erhöht ihn auch zu einem besonderen Teil eines unerhört großen, eines unglaublich wunderbaren Ganzen. Wer sensibel ist und wer Geist hat, den vermögen viele Ballons zu erreichen. Und wer die Ballonbotschaften zu deuten, in Bilder, Worte oder Töne umzusetzen vermag, die in der Welt der Menschen laut und mächtig widerhallen, der ist ein großer Maler, Dichter, Denker oder Komponist. Die Auswahl, Deutung und Einordnung dessen, was da empfangen wird, das ist die eigentliche, die originäre Leistung der inneren Kräfte des Individuums. Diese meine Vorstellungen schließen auch Propheten ein und religiöse Botschaften. Hier vollendet sich also ein Kreis, der auch göttliche Offenbarungen umfaßt."

 

In seiner wachsenden Empörung hat der Künstler die letzten beiden Sätze nicht zur Kenntnis genommen. Wütend springt er auf. Geduckt droht er mit dem Stock. Dann brüllt er den Wissenschaftler an: "Das ist alles, was meine Kreativität ausmacht? Mein Genie??"

 

"Nicht alles", lächelt der Physiker, "zu einem ordentlichen Genie gehört auch ein Löffel Eitelkeit, ein Körnchen Bosheit und eine Prise Ängstlichkeit."

 

"Sie!!!"

 

Ungerührt vollendet der Physiker seinen Gedankengang: "Die Ballons schweben unmerklich herbei, scheinbar aus dem Nichts. Für mich kommen sie aus dem Gestaltungsgeschehen. Für mich sagen sie das - das Wenige - das wir von diesem Geschehen und seinen Botschaften begreifen können."

 

Diese Vorstellungen des Wissenschaftlers sinken tief ins aufgewühlte Hirn des Künstlers. Bis an sein Lebensende wird er sie nicht vergessen. "D ... dann wären ja alle meine Bilder im Grunde Plagiate!", brüllt er. Taumelnd sucht er nach Halt. Dann plötzlich fängt er sich wieder. Aufs höchste erregt trippelt er auf und ab vor der Bank.

 

'Verdammt nochmal!', dröhnt es ihm im Schädel, 'dieser Mann schadet meiner Schaffenskraft! Was, zum Teufel, nützt mir alles Wissen dieses Wissenschaftlers, wenn es mir den Glauben nimmt, den Glauben an meinen Gott, den Glauben an mich, den Glauben an meine Originalität, an meine Genialität?!'

 

"N... nicht mein Werk!!", kreischt der Bucklige wie von Sinnen. "Nicht mein Verdienst. Nicht meine eigene Leistung!!"

 

"So ist es", sagt der Physiker. "Jedenfalls fast so."

 

"A ... alles schon dagewesen! A ... alles nur Wiederholung. Das ist doch Wahnsinn!!"

 

"Es ist nicht alles schon dagewesen. Wir müssen differenzieren. Immer schon dagewesen sind die großen Kräfte, die großen Gedanken, die großen Ideen. Immer schon dagewesen sind die Organisationsenergie, die Schöpfungsexplosion, der Milliarden von Jahren in Anspruch nehmende Ausreifungsprozeß und der alles Materielle wieder zerschmetternde Vernichtungsprozeß. Und dies alles wird auch ewig da sein. Noch nicht dagewesen sind die Einzelheiten, ist das Individualisierte der Natur, das ständig neue Wege Suchende, sich niemals Wiederholende, das immer wieder neue Möglichkeiten hervorbringende Spiel, in dem sich die Grundkräfte der Schöpfung verwirklichen und erneuern."

 

"E ... erklären!", gurgelt der bebende Maler. "Erklären!!"

 

"Jeder große Gedanke, jede große schöpferische Leistung, jede große religiöse Botschaft, sie alle bestehen aus immer schon Dagewesenem und aus Neuem - aus von außen auf uns zuschwebenden Anregungen und aus dem, was unser individueller Geist daraus entstehen läßt."

 

Der Maler hebt abwehrend die Hand.

 

"Alles, was wir sind", fährt der Physiker fort, "alles, was wir erfahren und erlernt haben, unsere ganze unwiederbringliche Einmaligkeit als Individuum - das ist der Ort, an dem die Ballons Gedanken und Botschaften absetzen, das ist die Bühne, auf der die herbeischwebenden Darsteller ihre geisterhaften Tänze aufführen, auf der sie ihre Rollen spielen."

 

Lange schweigen die beiden.

 

Schließlich fragt der Maler: "Und wo bleibt da Ihre Wissenschaft?"

 

"Sie funktioniert nur innerhalb der Grenzen menschlicher Möglichkeiten. Nur hier vermag sie Gedankengebäude zu errichten, die in sich schlüssig wirken und dementsprechend als logisch oder als wahr empfunden werden. Wissenschaft ist in der Menschenwelt zu Hause."

 

"Da sind wir also schon wieder beim Restriktionsgesetz."

 

"Ja. Die Wissenschaft ist eine Konstruktion des Menschengeistes. Daher vermag sie dessen Grenzen nicht zu überschreiten. Aber unser Menschsein als Ganzes kann Botschaften von außerhalb der Grenzen empfangen und sie dem Hirn zuführen. So können wir darüber nachdenken. Und so können wir das Ergebnis des Nachdenkens überprüfen, indem wir es in Beziehung setzen zu wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisssen. Nur wem es gelingt, Erforschbares zu bereichern mit Erfühlbarem, nur dem gewährt die Schöpfung einen flüchtigen Blick durchs Schlüsselloch. Aber selbst so ein flüchtiger Blick kann das Leben eines Menschen für immer verändern."

 

Perlen

 

Der Maler reißt den Hut vom Kopf. Schwankend geht er zurück zur Bank. Dort hockt er sich auf die Kante der Sitzfläche.

 

"Natürlich", sagt der Physiker, "erfordert alles Große Sensibilität und Geist. Ein Stumpfer kann keine großen Gefühle empfinden, ein Dummer keine großen Ideen gebären. Stumpfe und Dumme verharren in der Ebene. Ihnen sind Berge so fremd wie Täler."

 

Von Verkrampfung erlöst, rutscht der Maler in eine normale Sitzposition. Und dann, ganz plötzlich, gewinnt er inneres Gleichgewicht zurück. Er beginnt zu überlegen. Nach einiger Zeit sagt er: "Freilich, das sind große Gedanken." Er legt Hut und Stock neben sich. "Da erkenne ich zwei Seiten menschlicher Existenz: die große universumweite und die kleine individuum-gebundene. Den endlosen Aspekt überpersönlichen Weltgeschehens und den endlichen Aspekt unserer vergänglichen Individualität. Das unsichtbare Zeitlose und das sichtbare Zeitliche. Hier verbindet ein großer Wurf sich scheinbar gegenseitig Ausschließendes."

 

Der Physiker nickt.

 

"Im Rahmen des Endlosen", überlegt der Maler weiter, "finden wir unsere Hoffnung auf Ewigkeit erfüllt, schwebt uns eine Ahnung zu von der Vollkommenheit des Universums, von der Gemeinsamkeit mit allem Lebenden, ja mit allen Kräften und Erscheinungsformen der Schöpfung überhaupt. Innerhalb der Grenzen des Endlichen wachsen, tanzen und vergehen unsere Ichs." Er faßt an die Hutkrempe. "Hier reiht ein Gedankenfaden Unterschiedliches zu Perlen einer Kette."

 

"Ja", sagt der Physiker. "Und diese Kette führt zum Kern unseres Seins. Sie hilft uns, die Begrenztheit und Vergänglichkeit unserer Individualität zu erkennen und zu ertragen, und sie gibt uns die Möglichkeit, uns als einmaligen Wurf der Schöpfung im großen, ewigen Weltgeschehen wiederzufinden."

 

Der Physiker denkt nach. Langsam und bestimmt sagt er dann: "Alles im Universum ist ein Prozeß. Nichts ist einfach da, alles geschieht. Die Zeit hat zwei Seiten: eine einmalige, irreversible, vorwärtsgerichtete und eine wiederkehrende, reversible, zyklische. Die irreversible Seite verleiht dem Ganzen ewigen Bestand, die reversible verleiht ihm erneuerbare Kreativität."

 

In sich versinkend nimmt der Maler seinen Spazierstock in die Hand und betrachtet dessen silbernen Handgriff. Stumm nickt er vor sich hin.

 

Da faßt der Wissenschaftler seine Gedanken noch einmal zusammen. "Wenn also die Anregungen für unsere tiefsten Einsichten und größten schöpferischen Leistungen aus dem Gestaltungsgeschehen kommen, aus der großen Welt des Universums zu uns schweben - wer sind dann wir? Was sind wir?" Er blickt in die umherirrenden Augen des Künstlers, deren Schwarz ganz klein geworden ist, und deren Weiß bei jeder Augenbewegung hell aufblitzt. "Wer oder was sind wir wirklich, wenn nicht zuerst und vor allem ein Teil des Universums? Ein Teil der Organisationsenergie, der Schöpfung, ein Teil der Zeit?"

 

Ganz tief sieht und horcht der Wissenschaftler in sich hinein. Mit fest geschlossenen Augen. Langsam hebt er den Arm. Wie im Traum malt seine ausholende Hand einen Halbkreis in die laue Abendluft. Dabei sagt er leise, kaum hörbar: "Es hängt alles zusammen. Es ist alles miteinander und ineinander verwoben." Bewegt nickt er vor sich hin. "Alles ist auf dem Wege. Alles fließt. Alles reift und vollendet sich in innerer Ausgewogenheit."

 

"Ich glaube", flüstert der Maler, "an ein ewiges Wirken letzter Kräfte, Zwecke und Ziele."

 

"Daran glaube auch ich", sagt der Physiker. "Aber ich glaube auch, daß wir diese niemals erkennen können."

 

Nach kurzem Schweigen fährt der Physiker fort: "Dennoch: ich bin mir gewiß - und diese Gewißheit gibt meinem Leben Inhalt und Bedeutung - daß ich ein Teil bin des universumweiten Gestaltungsgeschehens, des kosmischen Ozeans elektromagnetischer Phänomene. Und diese Gewißheit läßt mich auch daran glauben, daß die in meiner Einsamkeit und in meinem nach außen weit geöffneten Bewußtsein empfangenen Botschaften und meine darauf fußenden Einsichten und Erkenntnisse einen gewissen objektiven Wahrheitsgehalt besitzen."